The Pretenders - Relentless

Parlophone / Warner
VÖ: 15.09.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Weiter, immer weiter

Das Cover des zwölften Albums von The Pretenders zeigt ein Kleinkind mit überdimensionalen Boxhandschuhen. Es hat zwar Blutspuren am Kopf und trägt eine Augenklappe, aber steht sicher und aufrecht auf beiden Beinen, sein Blick ist trotzig und ungebrochen. Der Titel "Relentless" kann in Kombination mit der Illustration als kompromisslos, nicht nachlassend verstanden werden. "Weiter, immer weiter", wie es ein semmelblonder Fußballnationaltorwart einst zu sagen pflegte. All dies drückt das Selbstverständnis von Frontfrau Chrissie Hynde als Künstlerin treffend aus.

Von der Truppe, mit der die inzwischen 71-jährige 2020 "Hate for sale" veröffentlichte, ist diesmal nur Gitarrist James Walbourne dabei. Ebenso wie beim Vorgänger schrieb Walbourne auch hier alle Songs gemeinsam mit Hynde und spielt mehrere Instrumente. Und auch wenn trotz aller personeller Rochaden der Sound von The Pretenders mit melodiösem Gitarrenrock und vor allem Hyndes so charakteristischer Stimme stets wiedererkennbar und distinktiv geblieben ist, geht "Relentless" nicht auf Nummer sicher. The Pretenders wagen sich aus der Deckung und holen mit Abwechslungsreichtum und Dringlichkeit zum großen Punch aus.

Der Titel des Openers "Losing my sense of taste" weckt bewusst COVID-Assoziationen, der Song beschäftigt sich jedoch mit hauptsächlich ästhetischen Selbstzweifeln. Zu düster hallenden und flirrenden Gitarren sinniert Hynde über "senile dementia or some kind of psychosis" und lässt Resignation, Ruhelosigkeit und Kampfeslust mühelos ineinander fließen. Der Song zeigt bereits ein prägendes Element und eine Stärke des Albums und der Produktion von David Wrench, der zuletzt unter anderem auch beim großartigen "In amber" von Hercules & Love Affair an den Reglern stand. Walbournes abwechslungsreicher Gitarrensound ist weit vorn im Mix, bildet deutlich mehr als nur die Begleitung für Hyndes Gesang, ohne jedoch je zu sehr zu dominieren. Dies gilt auch für das augenzwinkernde "Merry widow" mit den herrlichen Zeilen "I'm a divorcee, but I feel like a widow / A very merry widow", in dem die zunächst brodelnde, grungige Gitarre in einen psychedelischen Instrumentalteil ausbricht.

Ausgerechnet die erste Single "Let the sun come in" kommt etwas brav und altbacken daher, dass Selbstreferenzialität auch besser geht, beweisen The Pretenders mit zwei anderen Songs: Der entspannte Jangle von "A love" erinnert an den klassischen Sound der Band in den frühen Achtzigern, das ungestüme "Vainglorious" sogar an das Riff von "Up the neck" vom legendären Debütalbum "Pretenders" aus dem Jahr 1979. "Relentless" weiß aber auch und besonders in den ruhigeren Momenten zu gefallen. Zu verträumter Surfgitarre verhandelt "The Copa" Abschied und Sehnsucht, das bezaubernde, akustische "Look away" beschreibt den vergeblichen Wunsch, sich nicht mit den Abgründen des Lebens zu beschäftigen: " I tried to look away but the pull was much too strong." Eben weiter, immer weiter.

Fürs Finale der Platte wird es in Grandezza und Songlänge gleich zweimal herrlich episch. "Just let it go" ist zugleich autobiografische Erzählung und lakonische Akzeptanz des ewigen Weltenlaufs: "I buried a few and to some I gave birth." Am Ende des Songs wiederholt Hynde eindringlich die Titelzeile, dazu lässt Walbourne die Gitarre aufjaulen und es erklingen Marschtrommeln. Es gibt kein "immer weiter", ohne auch loslassen zu können. Eben dies scheint Hynde im ungewohnt fragilen und sehnsüchtigen Schlussstück "I think about you daily" im Bezug auf eine vergangene Liebe unmöglich. Jonny Greenwood von Radiohead trägt hier ein kongeniales, ätherisch schwebendes, jeden Kitsch vermeidendes Streicherarrangement bei. Der Song ist ebenso wunderschön wie untypisch für The Pretenders und beweist erneut, wie rastlos ambitioniert die Band auch im sechsten Jahrzehnt ihres Bestehens noch ist.

(Michael Albl)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Losing my sense of taste
  • Merry widow
  • Just let it go
  • I think about you daily

Tracklist

  1. Losing my sense of taste
  2. A love
  3. Domestic silence
  4. The Copa
  5. The promise of love
  6. Merry widow
  7. Let the sun come in
  8. Look away
  9. Your house is on fire
  10. Just let it go
  11. Vainglorious
  12. I think about you daily
Gesamtspielzeit: 49:03 min

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Hierkannmanparken

2023-09-28 11:04:39

Merry Widow ist ja ein Wahnsinnssong. Man könnte meinen, Neil Young wäre an der Gitarre

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2023-09-27 08:28:11

Gut zu wissen, dass ich nicht der einzige Depp bin :D

Superhelge

2023-09-26 20:10:14

@Werbung: ...was mir passiert ist und mich riesig gefreut hat. Schade, aber in die Pretenders kann man ja nach der Rezi auch mal reinhören...und in die alten Proclaimers-Sachen sowieso :-)

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2023-09-26 10:18:11

Der Einstieg in die Rezension liest sich gleich viel witziger, wenn man The Pretenders mit The Proclaimers verwechselt.

Armin

2023-09-25 20:45:25- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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