Husten - Aus einem nachtlangen Jahr

Kapitän Platte / Cargo
VÖ: 29.09.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Konfetti in der Düsternis

Seit geraumer Zeit zählt Gisbert zu Knyphausen aus dem schönen Rheingau zu den ganz Großen unter den deutschen Musikern. Nicht so sehr mit Blick auf etwaigen finanziellen Reibach oder Verkaufs- beziehungsweise Streamingzahlen, sehr wohl aber hinsichtlich einer herausragenden künstlerischen Qualität. So sehr man ihn derweil im Singer-Songwriter-Kosmos als Solokünstler wahrnehmen mag, so sehr zieht es ihn immer wieder auch hin zu kreativen und nicht minder hochwertigen Kooperationen. Um nur einige zu nennen: Es gab das Zusammenspiel mit dem leider viel zu früh verstorbenen Nils Koppruch, die erfrischenden Schubert-Interpretationen an der Seite von Kai Schumacher oder die 2023 absolvierten Konzertabende mit Karl Ivar Refseth und Simon Joyner. Bei einem anderen Projekt namens Husten, das sich inzwischen mehr und mehr zur regulären Band mausert, versteht sich zu Knyphausen als ein Teil eines gleichberechtigten Trios, das offenbar nicht genug voneinander bekommen kann. "Aus einem nachtlangen Jahr" folgt schließlich nicht einmal anderthalb Jahre nach dem fulminanten "Aus allen Nähten".

Dass die vergleichsweise lange Vorrede den klugen Sänger in den Mittelpunkt rückt, könnte langfristig zum Problem werden – wenn er denn die Arbeit bei Husten als verlängerten Arm seiner musikalischen Kunst verstehen würde. Allerdings: Dieser Gefahr arbeitet die Band mit einer dezidiert bunten Palette an Stilen entgegen. So ist beispielsweise gleich der Auftakt "Bis morgen dann" zwar durchaus von Gisbert zu Knyphausens Stimme geprägt, doch steigert sich der zunächst spannungsgeladen und zurückhaltend intonierte Song in ein furioses Finale, das herrlich schräg und schrammelnd einige Erwartungshaltungen mit Verve in die Luft sprengt. Tief hinein in eine depressive Lage führt dann "Ja und ja", ein gefühlvolles Stück voll Düsternis. "Ok, ich tu's, ich dreh dieses Schiff herum / In dem Moment, in dem ich einen Moment nicht an Dich denk / Ich schaff das schon eines schönen Tags / Frag nicht, ob ich einsam bin und Angst vor allem hab / Die Antwort lautet: ja und ja – ja und …"

Es geht emotional und musikalisch rauf und runter, hin und her. In "Elli" wird eine Geschichte vom sich nähernden Abgrund erzählt, musikalisch vortrefflich intoniert unter anderem von den festen Husten-Mitgliedern Moses Schneider und Tobias Friedrich alias "Der dünne Mann". Dann wieder folgt ein mitreißender Song wie "Lass mich bitte nicht in Ruh", der sich live zur musikgewordenen Konfettikanone entwickeln könnte, lyrisch veredelt durch Sätze wie "Irgendwo im Schwarzwald meiner Seele hängt ne helle Neonröhre / Und zeigt mir ein Bild von Dir". Genuss bis zum Schluss, der ja doch kommen wird: "Vielleicht laufen wir in eine Sackgasse / Ja, vielleicht liegt hier bald alles brach / Aber ich werd Dich lieben bis alles schwarz wird und auch danach."

Bei den drei Musikern, die sich für die Aufnahmen Unterstützung durch Gitarrist Marcus Schneider, Schlagzeuger Ben Lauber und Keyboarder Arne Augustin hinzuholten, ist Husten längst zu einem Lieblingsprojekt geworden. Schließlich trafen sie sich in diesem Fall im Studio, ohne Songs fertiggeschrieben zu haben. Die innere Überzeugung, dass trotzdem viel Gutes entstehen kann, trieb die drei dabei zur Höchstform. Viele der zehn neuen Kompositionen wirken inhaltlich eher düster, sorgen aber nicht für lähmende Schwere beim Hören. Ganz im Gegenteil. Und dass Gisbert zu Knyphausen mit seiner charakteristischen Stimme fast zwangsläufig viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist wie schon auf "Aus allen Nähten" nicht von der Hand zu weisen – tut dem glänzenden Gesamteindruck aber keinerlei Abbruch. Wir hören hier einem Projekt bei der Reifung zur festen Band zu, die in manchen Momenten, ohne den direkten Vergleich auf Krampf anstellen zu wollen, sogar ein wenig die Lücke schließt, die eine kreative Keimzelle wie Kante seit vielen Jahren hinterlässt.

(Torben Rosenbohm)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Bis morgen dann
  • Lass mich bitte nicht in Ruh
  • Weiße Tiger

Tracklist

  1. Bis morgen dann
  2. Ja und ja
  3. Elli
  4. Lass mich bitte nicht in Ruh
  5. Auf der anderen Seite der Angst
  6. Achim du Träumer
  7. Nüchtern im Club (Nihilistendisko)
  8. Flamingo Hotel
  9. Weiße Tiger
  10. Für immer und ewig
Gesamtspielzeit: 30:31 min

Im Forum kommentieren

Max der Musikliebhaber

2023-11-23 09:28:10

Wäre schon irgendwie lustig, wenn es mal ein Konzert geben sollte, bei dem Husten als erste Band spielen und direkt danach Die Ärzte auftreten würden.^^

VelvetCell

2023-09-29 23:42:15

Du strafst deinem Nickname Lügen, Libertine.

The Libertine

2023-09-29 16:26:29

Ich mag Gisbert total, aber ich muss sagen, dass ich mir Husten irgendwie schön hören muss. Ich finde keinen Zugang zu dieser extrem traurigen, irgendwie im Indie Rock gefußten Musik. "Ja und Ja" und "Ellie" mal so exemplarisch: Das ist so traurig, speziell Ellie ist wie ein Bildungsreport auf dem ZDF: Ja, die Zeiten sind ungerecht, die soziale Härte. Alles klar. Das möchte ich dann aber lieber in einer Wissenschaftsstudie oder so. Das ist mir zu bildungsbürgerlich und irgendwie unangenehm beim Hören. Ist man ihm wohl gesonnen, zeugt so ein Lied von Empathie und Beobachtungsgabe, weniger gut gesonnen, werden da mit dem Zeigefinger Probleme adressiert die der white privilege Gisbert auf seinem Weingut vermutlich eher weniger fühlt. Eine Form der sozialen Aneignung. Es zieht einen runter. Vielleicht braucht man bei Rezession, Klimawandel und unsicherer Weltlage nicht auch noch jemanden, der einem die Probleme so klar vor Augen führt. Nach einer Trennung kommt das Album aber bestimmt super.

timo

2023-09-28 06:20:42

Der gute Gisbert ist wahrlich recht umtriebig. Abgesehen davon, dass er mit dem Heimspiel Knyphausen sein eigenes Festival hat, spielt er noch den Bass bei dem Projekt Paula Paula, das seine Lebensgefährtin Marlène ins Leben gerufen hat.

Und da hat er auch keine Probleme, mal nicht im Vordergrund zu stehen.

VelvetCell

2023-09-26 07:38:23

Pflichtkauf.
Pflichtkonzert.

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