Steven Wilson - The harmony codex

Virgin / Universal
VÖ: 29.09.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Kling Klang

Wir hatten es ja nicht nur einmal erwähnt: Steven Wilson ist ausgewiesenermaßen kein Freund des schnellen Streams. Das ist natürlich einigermaßen ungünstig, wenn man sich die aktuellen Statistiken zu Gemüte führt – und danach machen physische Tonträger nur noch knapp ein Viertel des Gesamtmarkts aus. Nun kann man sich dem Unvermeidlichen fügen und mit dem Strom schwímmen. Oder – und das ist eher nach Wilsons Geschmack – man schafft Anreize. Anreize beispielsweise in Form opulenter Ausstattungspakete oder aber auch mit Sounds, die prinzipbedingt nicht gestreamt werden können. Dolby Atmos ist so ein Fall eines immersiven Klangerlebnisses und mittlerweile einigermaßen verbreitet. Mit seinem neuen Album "The harmony codex" probiert sich der Brite einmal an etwas ganz Neuem. Die Rede ist von "Spatial Audio", also einem weiteren 3D-Sound-System, genauer gesagt einem System namens "L-ISA". Und Testhörer, die genau dieses Album auf diesem System mit dem grotesk klingenden Setup 18.2.1 zu hören bekamen, äußerten sich enthusiastisch, ein Autor des Blogs spinningplatters.com verglich das Hörerlebnis damit, ein Kaleidoskop zu hören. Ah ja.

Nun ist "The harmony codex" natürlich keine Technologie-Demonstration zur Erbauung einiger so durchgeknallter wie zahlungskräftiger Audio-Nerds, sondern ein ganz reguläres Studioalbum von Steven Wilson, das natürlich auch unter den Bedingungen der heimischen Stereoanlage funktionieren muss. Und da hatte es ob der überaus Mainstream-affinen Ausrichtung der letzten Alben durchaus Grund zur Kritik gegeben. Doch Wilson wäre nicht Wilson, wenn er nicht konsequent – manche mögen sagen, stur – seine Vision weiter verfolgen würde. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: "I'm privileged to do what the fuck I want." Und genau deshalb ist es völlig okay, wenn "Inclination" das Album mit einem Stakkato-Beat eröffnet und dann plötzlich innehält. Bis Wilson in die Stille hinein zu singen beginnt und der Loop wie nach einer kurzen Denkpause wieder losläuft. Tanzbar? Durchaus. Doch diese Harmonie wird durch verfremdete Gitarren umgehend wieder zerfetzt. Das ist ambitioniert, das verlangt Aufmerksamkeit.

"What life brings" geht dann schon fast als faustdicke Überraschung durch. Ganz tief greift Wilson hier in die eigene Diskographie, und plötzlich sind da wieder die floydischen Harmonien aus der Zeit so fantastischer Alben wie "Stupid dream" oder "Lightbulb sun". Und schon lauert der nächste harte Bruch in Form von "Economies of scale". Ein minimalistischer Beat pluckert leise im Hintergrund, während Wilson behutsam seinen Gesang darüber schichtet, bis sich der Refrain ausbreitet. Aber halt – diese eine Harmonie dort, klingt die nicht entfernt nach Peter Gabriel? Doch während dessen Diskografie noch im Hintergrund nach passenden Referenzen durchwühlt wird, buhlt "Impossible tightrope" um Aufmerksamkeit, ein wahnwitziges, elf Minuten langes Instrumental mit einer Flut von Gedanken, wie ein Rausch einer kreativen Explosion. Und das klingt nicht einmal wirr, sondern höchst spannend und greift dabei gar in die Zeit seiner ersten Soloalben "Insurgentes" oder "Grace for drowning" zurück. Wilson kann also nur noch Mainstream-Pop? Oh nein, weit gefehlt.

Das liegt vor allem daran, dass "The harmony codex" in weiten Teilen songdienlicher geraten ist, weniger hinter ein Gesamtkonzept zurückweichen muss. "Rock bottom" ist nicht zuletzt durch den Gastbeitrag von Ninet Tayeb schlicht wunderschön, während "Beautiful scarecrow" es sich erst gemütlich macht, bevor ein hinterrücks drauflos stampfender Beat alles niederreißt – jedoch nur, um vom Titelstück in Watte gepackt zu werden, einem ebenfalls knapp zehn Minuten langen Ambient-Teppich. Und während "Actual brutal facts" nochmal im Fundus von "Insurgentes" wildert, wird zweierlei klar. Erstens: Da Steven Wilson der progressiven Musik überdrüssig war, mussten "To the bone" und "The future bites" exakt die Alben werden, die sie geworden sind, auch wenn die unterschwellige Message dahinter wohl zu unterschwellig war. Zweitens: Wilson hat Prog nicht verlernt. Auch wenn eine Platte wie "The raven that refused to sing (And other stories) " unerreichbar bleibt, weil seinerzeit zur spektakulären Musik auch (alp-)traumhafte Geschichten passten, ist "The harmony codex" ein wunderschönes Album, das endlich wieder zu ausführlichen Expeditionen unter dem Kopfhörer einlädt. Ob nun im Edelsound, heute schon fast üblichem Dolby Atmos oder schlichtem Stereo.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Economies of scale
  • Impossible tightrope
  • Beautiful scarecrow

Tracklist

  1. Inclination
  2. What life brings
  3. Economies of scale
  4. Impossible tightrope
  5. Rock bottom
  6. Beautiful scarecrow
  7. The harmony codex
  8. Time is running out
  9. Actual brutal facts
  10. Staircase
Gesamtspielzeit: 64:05 min

Im Forum kommentieren

OMalley

2023-11-17 17:55:13

Bei mir ist es irgendwie raus aus dem Fokus. Ich mag es, einige Höhepunkte, einiges hat mich immer noch nicht und die Faszination eines neuen Wilsonwerkes ist jetzt vorbei. Die Spannung bleibt, was er als nächstes so machen wird.

Mr Oh so

2023-11-17 17:26:07

Interessant. Fühle ich anders. Für mich fühlt es sich an wie ein Ambient-Album, in das - etwas beliebig - zwei Popsongs eingefügt wurden.

Generell finde ich es klasse, dass Wilson mal wieder alle Erwartungen durchkreuzt und einen völlig neuen Weg einschlägt. Ich mag die (ich nenne es jetzt mal so) Ambient-Stücke, die Electronics, die Zeit, die sich die Stücke nehmen. Allerdings ist es irgendwie ein Album für den Kopf. Ich bin keiner, der ein zweites Raven fordert, aber ich muss klar sagen, dass mich Harmony Codex nicht so sehr berührt wie eben Raven, Grace oder HCE. Fast symptomatisch ist das emotionalste Stück nicht mal von Wilson geschrieben.

manfredson

2023-11-17 16:32:48

Das Album kommt mir inzwischen irgendwie vor wie eine gut durchdachte Playlist mit Musik verschiedener Künstler, die einen ähnlichen Musikgeschmack haben, ihn aber unterschiedlich umsetzen. Die Reihenfolge hat schon ihren Sinn, ein Albumgefühl kommt für mich aber trotzdem nicht so richtig auf.
Gleichzeitig kam mir noch der Gedanke, dass es auf vielen Alben den einen Song gibt, der sich vom Rest abhebt. Auf "The Harmony Codex" ist irgendwie jeder Song dieser Song. Und ich hätte echt Lust, die jeweils dazugehörigen Alben zu hören - wenn es sie denn gäbe. :D

Hoschi

2023-11-17 15:39:39

@old nobody

Echt ?! Ok.
Ich hab mir mal den Spaß erlaubt, das Album im Shuffle zu hören.
Dadurch wird es in meinem Universum um min. 2 Punkte abgewertet.
Selbst mit den vielen Stilwechsel wirkt es in chronologischer Reihenfolge absolut durchdacht und stimmig.

Old Nobody

2023-11-17 13:52:59

"... funktioniert das Album in seiner Gesamtheit wohl am besten."

Hmm,hat sich mir so noch nicht erschlossen weil ja hier mehrfach ganze Genres gewechselt werden und weil ich persönlich Impossible Tightrope auch als Stimmungsbrecher (und Schwachpunkt des Albums) wahrnehme. Für mich wirkt Harmony Codex eher über die einzelnen Songs für sich.

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