100 Kilo Herz - Zurück nach Hause

Bakraufarfita / Broken Silence
VÖ: 01.09.2023
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10
4/10

Wo oder wann?

Wo ist "zu Hause"? Und vor allem: Wann weiß man eigentlich, ob man diesen manchmal fast mystisch anmutenden Ort gefunden hat? Fragen, die Menschen völlig unterschiedlich beantworten. Manche werden früh sesshaft, manche verlassen den Ort, an dem sie aufwuchsen, nie. Und wiederum anderen erscheinen die ständige Veränderung, das Neue und der ständig andere Weg spannender zu bleiben als irgendein Status Quo. 100 Kilo Herz haben ihren Platz zumindest musikalisch gefunden. Ihre dritte Platte "Zurück nach Hause" wirkt gefestigt und hat sich mit bewährtem Nordsee-Wind-Charme in der Schublade mit der Aufschrift "Punkrock" eigenistet. Einen festen Platz darin hat im Falle der Leipziger auch die Bläser-Sektion. Schnell bemerkt man: Das mit den Hymnen klappt auch! Der Opener "Lichter aus" ist ordentlich auf Zack und zeichnet mit Reibeisen-Stimme und Trompeten-Party zum Einstand mal einen gepflegten Circle Pit vor. Doch egal, wo man mit ihnen abhängt: Bequem ist's mit den Sachsen natürlich nicht wirklich, wie der mit spitzer Zunge bestückte Punkrocker "Eine Hölle in Pastell" unterstreicht.

Denn bei 100 Kilo Herz – das Sextett taufte sich einst nach dem Muff-Potter-Klassiker von "Bordsteinkantengeschichten" – dreht sich einiges um Politik. Als sei die Welt spätestens seit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten nicht schon grotesk genug, gibt es nun einen von Russland entfachten Krieg im Osten Europas. Dazu scheint die Inflation im Euroraum nicht wirklich nachhaltig zu stoppen. Und als könnte sich grausamste deutsche Geschichte just hundert Jahre später wiederholen, schauen wir zu, wie Rechte sich die Krisen zunutze machen und mit Lügen Menschen fangen. "Keine Zeit für Angst" ist das Stück, mit welchem die Band ihrer Fassungslosigkeit über rechte Parolen in Parlamenten freien Lauf lässt und gemeinsam mit Nicholas Müller von Jupiter Jones der Enttabuisierung rechter Positionen fassungslos entgegenblickt. Vor allem aber verlangt der Song, bestückt mit knurrenden Dreiakkord-Riffs und Bläsern, endlich Mut und die notwendige Empörung, um sich dem entgegenzustellen. "Für jeden rechten Mord aus Hass / Gibt es noch zu viel Toleranz!" Ein Ohrwurm der ersten Liga obendrein.

Nicht immer gelingt 100 Kilo Herz das Songwriting so zupackend wie hier oder beim Abschluss-Doppel "Brocken.Pflaster.Steine" und "Lichter an". Manchmal bewegt die Band sich etwas nah am fühligen Kitsch ("2694 Tage"), geraten die Songs etwas vorhersehbar ("Alleine leuchten", "Spiegel"). Die Themen hingegen sind absolut wichtig: Das ska-punkige "Station 30" richtet den Blick auf den eklatanten Pflegenotstand im Land. "Das richtige Wort" geht tiefer, thematisiert strukturelle Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Konkret geht es um die Ermordung von vier behinderten Menschen in einem Potsdamer Pflegeheim, ein Fall, der 2021 aufgedeckt wurde. Traurig, denn dies ist nur der sichtbar dunkle Fleck einer nicht tragbaren Struktur, wo solche Vorfälle keineswegs Einzelschicksale darstellen, wo immer wieder vertuscht und abgewimmelt wird. Wo man das "Zuhause" findet, muss jeder für sich entscheiden. Eine Gesellschaft, in der man sich unabhängig von Nationalität, Religion oder körperlicher Einschränkung gleichberechtigt zu Hause fühlen darf, ist hierfür allerdings unabdingbar.

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Eine Hölle in Pastell (feat. Amy Vialon)
  • Keine Zeit für Angst (feat. Nicholas Müller)
  • Das richtige Wort
  • Brocken.Pflaster.Steine

Tracklist

  1. Lichter aus
  2. Station 30
  3. Eine Hölle in Pastell (feat. Amy Vialon)
  4. Keine Zeit für Angst (feat. Nicholas Müller)
  5. Und das nennt Ihr dann Leben
  6. Das richtige Wort
  7. 2694 Tage
  8. Ohne Worte
  9. Alleine leuchten
  10. Spiegel
  11. Brocken.Pflaster.Steine
  12. Lichter an
Gesamtspielzeit: 36:52 min

Im Forum kommentieren

RandomChance

2023-08-27 14:37:17

:-D

Armin

2023-08-27 12:58:17

Wenn z.B. an der Fleischtheke gesagt wird, "ich hätte gerne 100 Kilo Herz", dann ist es ohne Bindestriche korrekt

Sehr häufig gehörter Satz dort.

Obrac

2023-08-26 18:01:56

@Rochen: Wahrscheinlich ist es dann tatsächlich ein Fehler. Ich sehe so was auch (über-)kritisch, insofern stimme ich dir zu.

Autotomate

2023-08-26 17:12:44

Die Band behauptet aber, sich nach einem Muff-Potter-Song benannt zu haben.

"Mit Bezug" auf den Muff-Potter-Song, sagen sie, haben sie ihren Namen gewählt. Es zwingt sie ja keiner, das wortwörtlich und sinngleich zu übernehmen (wobei 100 Kilo Herz ja u.U. auch aus einem einzigen 100-Kilo-Herz bestehen könnten ;). Der Ausdruck 100 Kilo Herz beinhaltet für sich betrachtet jedenfalls keine Rechtschreibfehler. Es ist eigentlich auch vollkommen wurscht, wir sind uns ansonsten ja vollkommen einig.

Jetzt schreib ich hier auch wirklich nichts mehr rein, ich schwör.

RandomChance

2023-08-26 16:58:43

Müsste theoretisch auch meine Musik sein. Empfinde die beim Reinhören aber meist wie die Hosen-Version von Hemdsärmel-Punk. Sowohl musikalisch als auch textlich.

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