Naked Lungs - Doomscroll

Naked Lungs
VÖ: 18.08.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Höllensturz

Ganz am Anfang von "River (down)" ist da ein Gitarrenflirren, das sich anhört, als würde Schleifpapier über rostiges Metall kratzen. Oder wie das Geräusch, das ein bremsender Zug auf nassen Gleisen macht. Pervertierter Shoegaze. Etwa 15 Sekunden später setzen Schlagzeug und Bass ein, treiben unentwegt nach vorn, aber in unterschiedliche Richtungen. Das Ziel, wenn es denn eins gibt: Bloß weg von hier, egal wohin. Dass sich aus dem räudigen Knäuel aus Aggression und apokalyptischer Raserei dann doch so etwas wie eine Hook herausschält, grenzt an ein Wunder. "Down and down and down and down and down", hämmert Sänger Tom Brady die zwei immer gleichen Worte ins Mikrofon. Als das Toben schließlich aber für einen Moment verebbt, gerät auch der vormals aufgepeitschte Gesang nur mehr zu einem Wimmern. "What have I done? / Oh what have I done? / What have I become?" Naked Lungs heißt die junge Band, die dieses Ungetüm von Song erschaffen und zusammen mit neun weiteren auf "Doomscroll" gebannt hat. Ganz aus dem Nichts kommt dieser Noise-Orkan keineswegs. Mit der selbstbetitelten ersten EP haben die Iren in den einschlägigen Medien bereits für einiges Aufsehen gesorgt, der "NME" rankte sie unter den "100 for 2023". Ihr Debütalbum hält den großen Erwartungen stand.

Das Artwork von "Doomscroll" zeigt ein Werk des italienischen Barockmalers Luca Giordano. Der Bildausschnitt ist verdunkelt und so gewählt, dass von Erzengel Michael nur ein Fuß zu sehen ist. Den Mittelpunkt bildet ein geflügelter Satan, umgeben von anderen abtrünnigen Engeln, die sich mit schmerzverzerrten Gesichtern auf dem Boden winden. Oder sind es Menschen, die auf einem verwüsteten Erdball ausharren und leiden müssen, weil ihnen der Eintritt ins Paradies verwehrt ist? Der Begriff "Doomscrolling" bezeichnet das Phänomen des exzessiven Konsums von schlechten Nachrichten im Internet, wodurch sich das negative Bias sukzessive weiter verstärkt. Alles ist schlimm – und wird daher immer nur schlimmer. Dass der Soundtrack einer kaputten Welt aber selbst irgendwie kaputt sein muss, erscheint unausweichlich. Und der erste Gedanke bei "Pressure" ist tatsächlich: Das hört sich nicht gut an, hoffentlich ist da nichts durchgeschmort, könnte sonst teuer werden. Doch dann geht's plötzlich los, Schlagzeug und Bass verschmelzen zu einem pulsierenden Strom, von allen Seiten krachen die Gitarren herein und wie bei einem in die Ecke gedrängten Hund wechselt Bradys Gesang zwischen Bellen und Schreien hin und her. Kurz: Naked Lungs klingen hier – und nicht nur hier – wie das love child von Sleaford Mods und Converge.

Oder nehmen wir den Beginn von "Outcome", wo es zunächst über eine Minute lang hämmert und stampft wie in einem Stahlwerk, dazu Ohnmacht und Resignation in Dauerschleife: "No matter what you do, it’s the same outcome." Nach der Ouvertüre bricht dann die Hölle los. Doch wie alle wirklich guten Krawall-Bands hauen auch Naked Lungs nicht einfach stumpf drauf, sondern versuchen, dem Exzess eine Form zu geben. Der Opener "Gack" oder auch "Database" rollen verhältnismäßig geradlinig voran und finden ihr Heil in der schieren Überwältigung. Entfremdung und Schmerz, eingeklemmt zwischen kreischenden Dissonanzen und einem dunklen Groove, der in die Eingeweide fährt. "Some find sadness in a gulp of pain / But you and I are not the same / All we share is a love for rage." Zweifellos ringt "Doomscroll" mit existenziellen und überzeitlichen Fragen, doch scheint es unumgänglich, die Wut und die Unzufriedenheit, die dieses Album aus jeder Pore schwitzt, auch vor dem Hintergrund sehr konkreter und sehr gegenwärtiger Umstände zu begreifen. In einem Beitrag für "Spin" wurden Naked Lungs kürzlich zusammen mit einigen weiteren irischen Post-Punk-Bands als Vertreter eines "angry new Ireland" bezeichnet, das angesichts der gravierenden sozialen Probleme im Land nicht zuletzt nach einer Art Katharsis in der Musik sucht. Auf "Doomscroll" sind die kathartischen Momente naturgemäß diejenigen, wenn sich alles überschlägt und dann mit einem Mal in Trümmern zusammenbricht.

Im Kontrast dazu trotzen Naked Lungs dem Krach aber immer wieder auch Augenblicke der Stille ab – kurze Phasen der Anspannung vor dem nächsten Ansturm. "Relentless" macht das mustergültig vor. Man wartet und wartet und wartet, bis das Unausweichliche passiert. Vollends auf die Spitze treibt dieses Formprinzip jedoch das nachfolgende "Shell", mit fast sechs Minuten der längste Song auf "Doomscroll", eine Litanei, die Woge um Woge dem Ende entgegenwalzt. Dieses mag zwar etwas melodischer und weniger ungestüm zu Werke gehen, der Intensität tut das aber keinen Abbruch. "Boo boo", das ebenfalls an der Sechs-Minuten-Marke kratzt, setzt noch einmal einigen galligen Schlussakkord und gibt die eigene Existenz vollends der Lächerlichkeit preis. In "Second song" auf Albumhälfte eins war das zumindest noch als rhetorische Frage formuliert: "Laughing and laughing it's oh what a jest / But if no one’s a clown / Is it me?" Eine gute halbe Stunde später ist die Sache klar. Es gibt schlichtweg keine Aussicht auf Erlösung und keine falsche Versöhnung. Und es ist womöglich genau diese Kompromisslosigkeit in jeglicher Hinsicht, die Naked Lungs auszeichnet und "Doomscroll" zu einem so überwältigenden wie unverdaulichen Brocken Musik macht. "I laugh at things that make me cry / I’ve made a comic of myself." Damit endet es. Allzumenschliche Verzweiflung, kosmisches Gelächter.

(Markus Huber)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Gack
  • River (down)
  • Pressure
  • Boo boo

Tracklist

  1. Gack
  2. Second song
  3. River (down)
  4. Relentless
  5. Shell
  6. Outcome
  7. Pressure
  8. Database
  9. The garden
  10. Boo boo
Gesamtspielzeit: 38:57 min

Im Forum kommentieren

Mayakhedive

2023-11-23 20:40:13

Lief jetzt hier mit etwas Abstand nochmal, und das ist schon ziemlich geil.
Ich bin vor allem gespannt, wo bei denen die Reise so hin geht. Über weite Strecken ist das ja schon einigermaßen fies, dreckig und düster, aber dann hat "The Garden" plötzlich fast so eine Art verqueren Pop-Appeal.
Danke an PT in jedem Fall für die Rezi, die wären sonst ziemlich sicher erstmal an mir vorbei gegangen.

The MACHINA of God

2023-09-03 19:25:48

Oha, ja die auch.

Donny-

2023-09-03 16:56:18

... und vor allem an "These arms are snakes", die (weshalb auch immer und somit nahezu sträflich) in den Referenzen außen vor gelassen wurden.

Alleine schon der Song "River (Down)" = TAAS 🤷🏻‍♂️

The MACHINA of God

2023-09-03 16:37:40

Mih erinnert es vor allem an Daughters. Album macht auf üble Art Laune.

kiste

2023-08-28 11:27:23

Wird ja im Text auch als „Love child“ der beiden beschrieben. Passt schon irgendwie. Die Referenzen sind ja auch sehr wild.
Ich hatte mir nach dem Anhören einen Gastauftritt von Kate Tempest gewünscht, denn mit dem Gesang hier (vor allem den Spoken Word Passagen) kam ich am wenigsten zurecht. Nichtsdestotrotz zog es mich am Wochenende immer wieder zum Album, denn es bot erstaunlich viele Ohrwürmer (vllt. den wiederholenden Passagen geschuldet) und sehr intensive Momente. Cool ist auch, wie es gegen Ende hin recht rockig wird. Insgesamt ein angenehm rohes und sehr experimentiertfreudiges Ding. 100% meinen Geschmack trifft es nicht aber eine sehr interessante Neuentdeckung für mich!

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