The Clientele - I am not there anymore

Merge / Cargo
VÖ: 28.07.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Vorwärts in die Vergangenheit

Erinnerungen sind eine tückische Angelegenheit. "I could not find the place that I came from", stellt Alasdair MacLean in "I dreamed of you, Maria" fest, nachdem er zuvor eine knappe Stunde lang durch das Labyrinth seiner Vergangenheit geirrt ist. The Clientele, die sich in den Nullerjahren mit ihrem Sixties-beeinflussten Fotoalbum-Pop einen Nischen-Namen machten, waren wie die artverwandten Belle & Sebastian schon immer Hohepriester der Nostalgie. "I am not there anymore" konkretisiert diesen Umstand, indem MacLean hier Erinnerungsfragmente, unter anderem an den frühen Tod seiner Mutter, zu einem traumwandlerischen Mosaik zusammensetzt. Paradoxerweise klingen die Londoner auf ihrer siebten Platte jedoch alles andere als rückwärtsgewandt: Sie haben sich nach eigener Aussage zum ersten Mal Computer besorgt und ihre Bandidentität so weit ausgelotet, dass sogar Miles Davis' "On the corner" als Inspiration Erwähnung findet. Die Samples, Jazz-Andeutungen und unkonventionellen Strukturen unterlaufen den inhaltlichen Fokus aber keineswegs, sondern intensivieren dessen verschwommene Schönheit. "All the beautiful things are opaque", heißt es nicht umsonst im wundervollen "Lady Grey".

Der Song ist ein Leuchtturm des Jangle-Klassizismus inmitten eines ersten Albumdrittels, das The Clientele so weit von ihren gewohnten Ufern wegtreibt wie nie. Über achteinhalb Minuten erstreckt sich der Opener "Fables of the silverlink", der genug Rhythmuswechsel auffährt, um sich das Präfix "Progressive-" zu verdienen. Cellos schleifen am klapprigen, auf rückwärts abgespielten Handclaps bauenden Beat, spanischer Frauengesang wechselt sich mit Passagen melodischer Grandeur ab, die sich von Bläsern in den Himmel tragen lassen. In "Garden eye mantra" torkelt eine Gitarre um das TripHop-artige Fundament, ehe gleißende Streicher den psychedelischen Groove komplettieren – so einlullend, dass selbst MacLean fast seinen Einsatz vergisst. Der perkussive Loop von "Dying in May" weist dem Miles-Davis-Namedropping hörbares Gehalt zu, während der Frontmann zwischen Glocken und Orchester-Drone seine mysteriöse Anrufung wiederholt: "Oh sister, will you go back into the flowers?"

Eine Reihe von Piano-Interludes lockert die vernebelte Stimmung auf, doch nicht jedes Zwischenstück ist wortlos. Jessica Griffin von der Band Would-Be Goods bettet ihr markantes RP-Englisch in die entspannten Tasten von "Conjuring summer in" ebenso reibungslos ein wie zwischen die Avantgarde-Horror-Streicher von "My childhood", das nachts auf einem Friedhof abgespielt wahrscheinlich Scott Walker und Alfred Hitchcock gleichzeitig beschwört. Ein seltener Moment der Dissonanz, den der Closer "The village is always on fire" wieder relativiert, wenn er die gleichen Lyrics in einen deutlich bekömmlicheren Kontext setzt. Neben all den Ambitionen und Experimenten beweisen The Clientele weiterhin ihr Händchen für perlende Akustik-Popsongs, auch wenn diese nicht ohne ihre eigenen Twists auskommen. "Claire's not real" koppelt Bar-Jazz und Bossa Nova, bevor es den Albumtitel zur Hook formt. Das treibende "Blue over blue" verliert sich in einem Wald, in dem außer sonnigen Saiten auch Minimal-Beats und kleine Noise-Auswüchse ihren Platz finden.

Erst in der Schlussphase gibt sich "I am not there anymore" der Folk-Klarheit hin – was nicht heißt, dass es dabei an Klasse einbüßt. Das verhindern die virtuos gespielten Gitarren von "Stems of anise" genauso wie das Outro von "Hey Siobhan", in dem MacLeans vervielfachte Stimme um den stoischen Bass seines Kollegen James Hornsey herum spukt. Und wenn "Through the roses" mal ganz ohne Schnörkel auskommt, vermisst man auch nichts. Wie reichhaltig The Clientele subtiles Songwriting mit Tiefe, Sensibilität und eloquenter Bildsprache füllen können, zeigt kein Track so sehr wie "Chalk flowers". MacLean erzählt von Jugendfantasien und der ersten Romanze, bis die schmerzhafte Realität in die Traumlandschaften bricht: "The king's sleep is unbroken, the hospice window's open." Ein konkreter Stopp im abstrakten Strom der Erinnerungen, von dem aus es nur in eine Richtung weitergehen kann.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Fables of the silverlink
  • Garden eye mantra
  • Lady Grey
  • Claire's not real
  • Chalk flowers

Tracklist

  1. Fables of the silverlink
  2. Radial B
  3. Garden eye mantra
  4. Segue 4 (iv)
  5. Lady Grey
  6. Dying in May
  7. Conjuring summer in
  8. Radial C (Nocturne for three threes)
  9. Blue over blue
  10. Radial E
  11. Claire's not real
  12. My childhood
  13. Chalk flowers
  14. Radial H
  15. Hey Siobhan
  16. Stems of anise
  17. Through the roses
  18. I dreamed of you, Maria
  19. The village is always on fire
Gesamtspielzeit: 62:58 min

Im Forum kommentieren

Vive

2024-08-27 19:03:44

:) Ich seh bei denen immer David bowie der bei den Beatles singt. Sehr geiler Song aber sehr dicht, und am Schluss rausgefunden, was ich mir da wünschen würde: dass es nicht ganz so hektisch wäre

Vive

2024-08-27 18:56:53

Oh shit Alarm i Look

MickHead

2024-08-27 16:51:40

Brandaktueller Neuer Song "Trains In The Night"

https://youtu.be/6PfmGFGrgBA?si=FvEHjHtWqz1o_8Bx

Vive

2024-07-29 16:35:53

Ich LIEBE claires not real!!

Hab ihr Album Strange geometry kürzlich entdeckt und das ist sehr toll

MickHead

2024-07-26 20:46:14

Diese tolle Band bereitet mir schon seit über 20 Jahren grosse Freude. Leider über das Nischendasein nie hinausgekommen. Bei den PT Rezensenten etwas spät, aber dann mit guten Kritiken akzeptiert.

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