Lucinda Williams - Stories from a rock n roll heart
Highway 20 / MembranVÖ: 30.06.2023
Hey hey my my
Wenn man private Widerstandsfähigkeit mit einem Bild ausdrücken möchte, ist das Cover-Foto von Lucinda Williams' 15. Album eine gute Option. Trotzig posiert die 70-Jährige dort mit ihrer Gitarre, und das, obwohl sie nach einem Schlaganfall Ende 2020 neben anderen motorischen Fähigkeiten auch das Spielen ihres Lieblingsinstruments einbüßte. Doch Williams ließ sich davon ebenso wenig aus der Bahn werfen wie von einer gewissen Pandemie oder Tornado-Schäden an ihrem Haus – in dem Jahr kam wirklich alles zusammen –, weswegen das vielsagend betitelte "Stories from a rock n roll heart" als künstlerisches Statement der Resilienz entstehen konnte. Nicht nur Ehemann Tom Overby sowie der New Yorker Musiker Jesse Malin griffen ihr dabei handwerklich unter die Arme, auch eine ganze Reihe prominenter Gäste unterschiedlicher Generationen trägt zur Platte bei – Ehrensache, wenn eine der verdientesten US-amerikanischen Songwriterinnen ein wenig Unterstützung benötigt. Das Resultat erreicht nicht die Tiefe von Williams' größten Meisterwerken à la "Car wheels on a gravel road" und kommt auch nicht ganz so druckvoll wie der Vorgänger "Good souls better angels" daher, beweist aber wieder eindrucksvoll, warum man die Frau weder in der Americana-Schublade einsperren noch in der fünften Dekade ihres Schaffens abschreiben sollte.
"Let's get the band back together", fordert gleich der Opener, ein angeschickert orgelndes Stück Bar-Rock mit Stones-Schlagseite, das ohne jede Reue in alte Zeiten zurückblickt. Zu satten Heartland-Riffs feiert Williams anschließend ihr "New York comeback", während sich niemand geringeres als Bruce Springsteen als begleitender Romantisierer des Big Apple dazugesellt. Der Boss und seine Gattin Patti Scialfa ackern auch im Hintergrund des Quasi-Titeltracks "Rock n roll heart" herum, dessen Lyrics um ein "working class kid in a dead-end town" aus Springsteens eigener Feder stammen könnten. Die Musik als heilende und rettende Kraft zieht sich als eines der Hauptmotive durchs Album. Die von Slide-Gitarren angeheulte Country-Ballade "Jukebox" findet Zuflucht im bunten Glanz eines Wurlitzer-Automaten: "I know how to ease my lonely heart / With Patsy Cline and Muddy Waters." Angel Olsen steigt in der Schlussminute ein, hält sich jedoch ehrfürchtig zurück. Ihre Kollegin Margo Price liefert einen markanteren, lauteren Kontrast zu Williams' knorrigem Crooning in "This is not my town", das als bluesige Abrechnung mit einem zerfallenden Amerika auch dem Vorgänger gestanden hätte.
Doch die kraftvollsten Momente von "Stories from a rock n roll heart" sind nicht die Auftritte der Lebenden, sondern die der Toten. "Stolen moments" erzählt davon, wie Erinnerungen an geliebte Menschen plötzlich im Alltag auftauchen, der sonnige Cabrio-Rock samt euphorischem Solo hätte sicher auch dem hier Tribut gezollten Tom Petty gefallen. Der 1995 verstorbene The-Replacements-Gitarrist Bob Stinson steht im Fokus des tief bewegenden Sucht-Laments "Hum's liquor", in dem sein Bruder und ehemaliger Bandkollege Tommy Backing-Vocals beisteuert und das narrativ an Williams' eigenes "Drunken angel" erinnert. In "Last call for the truth" sehnt sich die Erzählerin nach "one more taste of my youth", ehe die sechseinhalbminütige Meditation "Where the song will find me" vor ihren Streicher-Wänden das Verhältnis von bisherigem Schaffen und der Inspiration für Neues unter die Lupe nimmt. "My words don't rhyme and I can't find a line / I'm looking for a sign that I'm running out of time", heißt es im Closer, der die Antwort auf die Zweifel bereits im Titel bereithält: "Never gonna fade away". Die Krise, die Lucinda Williams aus den Socken haut, muss erst noch erfunden werden.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Stolen moments
- Hum's liquor
- Where the song will find me
Tracklist
- Let's get the band back together
- New York comeback
- Last call for the truth
- Jukebox
- Stolen moments
- Rock n roll heart
- This is not my town
- Hum's liquor
- Where the song will find me
- Never gonna fade away
Im Forum kommentieren
ijb
2023-07-13 19:36:27
Cool, dass Lucinda für ihr Album hier so eine positive Bewertung bekommt! Als großer Fan bin ich zwar (nach ein paar Durchläufen) der Meinung, es ist ihr schwächstes Album seit 30 Jahren, aber das will nicht viel heißen: Seit "Car Wheels" waren alle super. Kein mittelmäßiges Album dabei (trotz der eigenartig mittelmäßigen Wertungen hier z.T. für zwei ihrer allseits als zwei ihrer allerbesten anerkannten Alben, "West" und "Essence").
Das neue ist sympathisch, aber wohl eher Fan-Veranstaltung. Die beiden Nummern, die sie im Januar beim Berlin-Konzert spielte ("Stolen Moments" und "Let's get the Band back together") fand ich in dem weit über zwei Stunden langen, tollen Konzert https://www.setlist.fm/setlist/lucinda-williams/2023/heimathafen-berlin-germany-53bdbb19.html mit Abstand die schwächsten an dem Abend - was mir schon arge Bedenken angesichts des neuen Albums bescherte.
Auf dem Album klingen beide schon besser als im Konzert (man hört sie sich vielleicht auch ein wenig schön), aber an etliche ihrer (sehr vielen) besten Songs reicht wahrscheinlich keiner auf dem Album ran. Zum Konzert gehe ich 2024 aber dennoch wieder. Karten sind schon gekauft.
Obwohl ich LW für eine der ganz großen amerikanischen Songwriter ihrer Generation halte (jener Generation nach Dylan und Mitchell, also neben Leuten wie Patti Smith und Bruce Springsteen) würd ich eher zu 6/10 tendieren, aber vielleicht gewinnt das Album mit der Zeit.
Wer nicht bei der Tour 2023 war, sollte sich die Termine Anfang 2024 unbedingt vormerken. Oft wird man die Chance nicht mehr bekommen, die Frau mit ihrer wahnsinnig guten aktuellen Liveband zu erleben.
Armin
2023-07-13 17:01:38- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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