Divide And Dissolve - Systemic

Invada / PIAS / Rough Trade
VÖ: 30.06.2023
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Mit schwerem Gerät

Schweigen ist Freiheit, Reden ist Sklaverei. So oder so ähnlich lautet die Einstellung, mit der Divide And Dissolve seit vier Alben eindrucksvoll brachialmusizieren. Gegen den Kolonialismus, unter dem indigene Völker zu leiden haben, gegen Diskriminierung von BIPoC-Menschen und gegen das, was Herrenrassen-Spinner als angebliche "white supremacy" herbeihalluzinieren. Cherokee-Amerikanerin Takiaya Reed und Maori-Neuseeländerin Sylvie Nehill wissen schließlich, wovon sie sprechen – oder auch nicht. Zumindest in ihrer Musik reicht den beiden nämlich die reine Wucht der Instrumente, um ihrer Wut auf oben skizzierte Missstände Ausdruck zu verleihen und alle Verfechter inhumaner Denkmuster mit Karacho vor die Wand auf dem Cover von "Systemic" laufen zu lassen. Hat's auch ordentlich wehgetan? Das wollen wir doch hoffen.

Schon die William Basinskis "The disintegration loops" nachempfundene Sound-Schlaufe des Openers "Want" rasselt verheißungsvoll mit dem Unerbittlichkeits-Besteck. Viel lieblicher wird's hier einfach nicht mehr. Und wenn doch, ist die zuweilen beinahe himmlisch entschwebende Qualität von Reeds Saxofon maximal von kurzer Dauer. Man muss nämlich immer damit rechnen, dass donnernde Sludge-Riffs die zwischen spirituellem Jazz und ätherischer Neoklassik oszillierenden Anrufungen niedermachen, während Nehills Schlagzeug mit glühenden Crash-Becken einen schleppenden Groove in die aufgeworfenen Stücke einzieht. "Blood quantum" ist so ein dröhnendes Desaster, das "Systemic" unter unablässigem Hacken und Schleifen erstmals überkochen lässt und schließlich von abschwellendem Gebläse verschluckt wird wie von einem schwarzen Loch.

"We are really worried about you", warnte der Closer des imposanten Vorgängers "Gas lit" – um Divide And Dissolve hingegen muss sich niemand Sorgen machen, solange das Duo sein tieffrequenziges Wühlen so kompromisslos inszeniert. Auch mit Lyrics könnten Reed und Nehill ihren Groll auf verbrecherische Kolonialmächte und die Unterdrückung von Minderheiten kaum vernichtender zum Ausdruck bringen als etwa im böse auftrumpfenden Zweieinhalbminüter "Simulacra": Die Gitarre wird zornig, das Drum-Kit fliegt im Speed-Rausch fast auseinander, bis der Track in sich zusammenstürzt und ein Trümmerfeld aus gerissenen Saiten und zerplatzten Fellen hinterlässt. Und auf die relativ knappe Spielzeit gesehen würden vermutlich nur Schutt und Asche übrigbleiben, sollten die beiden bis zum bitteren Ende ausschließlich mit derart schwerem Gerät hantieren.

Wird "Systemic" in der Folge etwas milder, spricht das also auch für gekonntes Einteilen der Kraftreserven: Das zentrale Kernstück "Indignation" changiert spannungsgeladen zwischen schwer melancholisch und aufbrausend heavy, Poetin und Stammgästin Minori Sanchiz-Fung rezitiert im Drone-Hörbild "Kingdom of fear" Nachdenkliches zu Existenzrecht und dem Schmerz der Vereinzelung, der weitläufig orchestrierte Abschluss "Desire" kommt gänzlich ohne metallische Breitseiten aus. Das einzige Friedensangebot, das Divide And Dissolve zu machen bereit sind – nicht etwa an ihre Peiniger, sondern an alle, denen das zutiefst humanistische Ansinnen dieses gewaltigen Albums genauso am Herzen liegt wie den Künstlerinnen. Die keine Ruhe geben werden, bis die Menschheit etwas dazugelernt hat. Und das kann noch eine ganze Weile dauern.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Blood quantum
  • Simulacra
  • Indignation

Tracklist

  1. Want
  2. Blood quantum
  3. Derail
  4. Simulacra
  5. Reproach
  6. Indignation
  7. Kingdom of fear (feat. Minori Sanchiz-Fung)
  8. Omnipotent
  9. Desire
Gesamtspielzeit: 33:08 min

Im Forum kommentieren

u.x.o.

2024-01-22 21:59:36

Spielen in ein paar Tagen beim CTM-Festival, ich überlege hin und her ob ich mir eine Karte besorge. Später am Abend (um 1 Uhr) spielt noch Otay:Onii, die ich extrem gerne sehen würde! Ich muss aber ehrlich gestehen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich so lange überhaupt noch durchhalte. (lol, irgendwie) Zumal das unter der Woche ist und entsprechend keine Öffis mehr fahren werden. Wenn es nicht Winter wäre, würde ich ja einen langen Spaziergang machen, aber bei Minusgraden? Not so much. Meine Frau hat sich schon ausgeklinkt, ihr ist´s tatsächlich zu spät.

Klaus

2024-01-22 18:43:04

Endlich mal geschafft. Sehr spannendes Teil. Heftiger Noiserock, dazu aber so düster/doom Jazz Anleihen. Gefällt!

u.x.o.

2023-07-06 22:09:10

Ganz mein Beuteschema, habe aber zuvor noch nie von denen gehört. Erster Durchgang and I'm in doom heaven. Danke für den Tipp!

Armin

2023-07-05 22:09:03- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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