Julie Byrne - The greater wings

Ghostly International / Cargo
VÖ: 07.07.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Auf der Suche

Julie Byrne war lange Zeit auf der Suche. Auf der Suche nach Heimat, nach dem passenden Klang für ihre Musik, nach dem Kern ihrer selbst. So viel sie ihrem Vater und dessen Künsten an der Gitarre – er spielte als Hobby und auf Hochzeiten, bis ihn Multiple Sklerose stoppte – als unmittelbare Quelle der Inspiration zu verdanken hatte, so konsequent wandte sie sich vom Elternhaus ab. Noch vor ihrem 20. Geburtstag verließ sie die gewohnte Umgebung, zog hierhin und alsbald dorthin. Die Suche ging weiter. Ihre musikalischen Ideen goss sie zunächst in ihr Debüt "Rooms with walls and windows", 2017 verfeinerte sie ihre Künste auf dem schönen "Not even happiness", für das sie viel verdiente Anerkennung einheimste. Der wichtigste Mensch für die volle Entfaltung ihres immensen Talents: Eric Littmann. An seiner Seite fand sie echte Freundschaft, zwischendurch Liebe und immer Zuspruch. Das Leben aber kracht regelmäßig mit Urgewalt und Tücke in die schönsten Geschichten, Littmann starb 2021.

Da hatte der Aufnahmeprozess für ihr drittes Album längst begonnen. Als Littmann gestorben war, legte ihre musikalische Entwicklung eine Pause ein. Julie Byrne legte alles erst einmal beiseite und musste sich sammeln. Als Kraft und Lebensmut zurückkehrten, machte sie sich wieder an die Arbeit. Und die hat sich gelohnt, das wird von der ersten Minute an deutlich. Der Titelsong "The greater wings" öffnet mit aller gebotenen Vorsicht die Tür zu einem intimen, ausgesprochen persönlichen und emotional mitreißenden Album. "You're always in the band / Forever underground / Name my grief to let it sing / To carry you up on the greater wings", singt Julie Byrne dort mit hauchzarter Stimme, minimal instrumental untermalt von weichen Gitarrenklängen. Und hier steckt mit Blick auf den Abschied von ihrem Wegbegleiter ja gleich alles drin: das Gefühl der ewigen inneren Verbundenheit bei gleichzeitiger physischer Abwesenheit. Der Mensch, dem sie sich so nahe fühlte, ist "forever underground" – ein schmerzhafter Gedanke, den sie in musikalische Schönheit gießt.

Man mag auf den zehn Stücken musikalische Referenzpunkte abhaken, schließlich grüßen Künstlerinnen wie Sharon Van Etten, Angel Olsen oder Sophie Hunger applaudierend vom Wegesrand. Man muss aber auch festhalten: Julie Byrne hat ihren eigenen Ton gefunden und mit dem dritten Album den unwiderstehlichen Höhepunkt ihres bisherigen Schaffens eingespielt. Dort taucht sie in die Vergangenheit ein: "That night at the old hotel / I'd been learning you by heart / Voices rising through the smoke / Tables caving in / I found it there in the room with you / Whatever eternity is", heißt es in "Moonless". In "Flare" bittet Julie Byrne zum Tanz, wenn sie singt: "Meet me on the dancefloor / Where I move in my own name", wenngleich ihre Kunst eben gerade nicht für den Dancefloor, sondern für die stille Stunde unter dem Kopfhörer gemacht ist. Angesichts des tragischen Verlusts wird die US-Amerikanerin wohl weiter auf der Suche bleiben – auf der Suche nach Erklärungen, nach den richtigen Entscheidungen und nach dem weiteren Weg, auf dem sie ein ganz besonderer Mensch nicht mehr begleiten kann. Musikalisch hingegen wirkt Julie Byrne inzwischen in höchstem Maße angekommen.

(Torben Rosenbohm)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • The greater wings
  • Flare
  • Hope's return

Tracklist

  1. The greater wings
  2. Portrait of a clear day
  3. Moonless
  4. Summer glass
  5. Summer's end
  6. Lightning comes from up the ground
  7. Flare
  8. Conversation is a flowstate
  9. Hope's return
  10. Death is the diamond
Gesamtspielzeit: 38:21 min

Im Forum kommentieren

Unangemeldeter

2024-05-23 18:15:17

Ah krass, danke für den Jamila Woods-Link. Es ist so irre dass für die Künstler:innen jetzt nichtmal mehr mit Touren Geld zu verdienen ist, siehe ja auch die Diskussionen bei Trail of Dead.
Was für ein beschissenes Business in dem eine Taylor Swift Milliardärin (!) wird, aber die Jamilas und Julias nichtmal mehr auf Tour gehen können.

ijb

2024-05-23 10:40:16

Oh, interessant. Ich hab tatsächlich ewig gezögert, mir ne Karte zu kaufen, aus Unsicherheit, ob das nun eine Solo-an-der-Gitarre-Konzert oder eine Show mit Band ist.
Wollte kurzfristig entscheiden, da ich in der Woche schon bei ein paar anderen Konzerten bin.
Für vorgestern Woche hatte ich eine Karte für Grace Cummings; wurde auch abgesagt.

@ Unangemeldeter
Vielleicht spielt hier auch die Kosten-Nutzen-Rechnung eine Rolle. Sicher haben einige hier den Bericht von Jamila Woods zu den Gründen ihrer Europa-Tourabsage gelesen:
https://www.instagram.com/p/C5YsE1AxE1R/

Unangemeldeter

2024-05-22 22:55:50

Tour aus persönlichen Gründen gecancelt. :(
Hoffentlich ist sie okay.

Unangemeldeter

2024-03-22 11:20:13

Eben gesehen dass sie am 1.6. in der Kuppelhalle des Silent Green in Berlin spielt, natürlich absoluter Pflichttermin! Ich liebe die Location, das passt sicher wahnsinnig gut zu diesen tollen Songs.

kingsuede

2023-12-24 12:09:21

Ist halt nur der zweitbeste Song des Albums.

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