Anohni And The Johnsons - My back was a bridge for you to cross

Secretly Canadian / Rough Trade / Beggars / Indigo
VÖ: 07.07.2023
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Nicht zu spät

"It must change", verkündet Anohni in der eröffnenden Lead-Single ihres sechsten Albums. Der politische Gestus ist nichts Neues im Werk der Künstlerin, doch der besungene Wandel vollzieht sich auch ästhetisch: Die kühle Elektronik des Vorgängers "Hopelessness" weicht hier einem warmen, akustischen Retro-Soul-Groove. Marvin Gayes "What's going on?" stand explizit Pate, inhaltlich wie musikalisch. Dazu blickt uns auf dem Cover von "My back was a bridge for you to cross" das Gesicht der wegweisenden LGBTQ-Aktivistin Marsha P. Johnson entgegen, die Anohni damals in ihrem Bandnamen verewigte – und deren wiedererstarkte spirituelle Präsenz der Grund dafür ist, warum die Johnsons nun wieder ins Moniker zurückkehren. Gleich mehrere Brücken schlägt die Platte zurück in die Siebziger, fördert damit jedoch nicht zuletzt die Erkenntnis zu Tage, dass gut 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung noch immer die gleichen Themen zur Debatte stehen.

Was sich zumindest bei Anohni selbst im Gleichschritt mit dem Sound geändert hat, ist der Tonfall. Sie spricht selbst davon, im fortschreitenden Alter vergebungsvoller geworden zu sein, weswegen das Album nicht nur klanglich nahbarer als "Hopelessness" wirkt. Zerstörung und Schönheit liegen von Beginn an beieinander, wenn im Video zu besagtem Opener als erstes ein Waldbrand zu sehen ist – und ziehen sich durch die weiteren neun Stücke, die ihren ernsten Themen mit ausnehmender Zärtlichkeit begegnen. In "Sliver of ice" singt Anohni ein Abschiedslied für ihren Freund und Förderer Lou Reed: Inspiriert von einem Gespräch in seinen letzten Wochen, geht es um das sinnliche Erlebnis, einen Eiswürfel auf der Zunge zu spüren, während sich Gitarre und Drums so sanft wiegen, als würden sie selbst auf gefrorenem Wasser stehen. Die Toten zeigen sich auch im Artwork der Platte, was deren eher nachdenkliche als aufmüpfige Atmosphäre weiterhin bekräftigt.

Ihre Kampflust entdeckt die Wahl-New-Yorkerin lediglich in "Can't". Produzent Jimmy Hogarth, der mit Duffy und Amy Winehouse bereits die poppigere Seite des Vintage-Monds erkundete, gibt dem orchestral akzentuierten Soul-Rock Schwung, auf dessen Fundament die Trauer der Wut weicht: "I don't want you to be dead / I won't have it", schmettert Anohni aus sich heraus. "You're so killable", lautet der widersprüchliche Anknüpfpunkt von "Scapegoat", ehe der heulend-verzerrte Ausbruch ein Ausrufezeichen hinter das beklagte Unrecht setzt. Die Strukturen hinter Unterdrückungsverhältnissen sind teils so perfide, dass sie zu Schuldgefühlen auf der falschen Seite führen – "It's my fault" heißt sicher nicht zufällig der direkt folgende Song. Und weil auf dem Zeitstrahl der Protestmusik auch der Blues eine prominente Rolle einnimmt, würdigt "Rest" demselben in einer besonders intensiven Variante.

Mit dem programmatisch betitelten "Why am I alive now?" droht "My back was a bridge für you to cross" eine depressive Schlussnote zu finden. Warum ausgerechnet jetzt am Leben sein, fragt sich Anohni, wo man der Welt nur beim langsamen Untergang zuschauen kann? Doch die geschmeidigen Arrangements sind kein zynischer Kommentar, kein leicht bekömmliches Verpacken unangenehmer Wahrheiten, sondern der notwendige Stoff, aus dem sich das tatsächliche finale Statement spinnt. "You be free", fordert die abschließende Miniatur, nachdem sie dem Albumtitel Kontext gegeben hat. Marsha P. Johnson starb Anfang der Neunziger, als sich die gegen die LGBTQ-Community gerichtete Gewalt in New York auf einem ihrer Höhepunkte befand, doch sind die gebrochenen Rücken der Gescheiterten nichts anderes als die Brücken, die den nachfolgenden Generationen den Weg bereiten. Die Zeit der "Hopelessness" ist vorbei – es ist noch nicht zu spät.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Sliver of ice
  • Can't
  • Rest

Tracklist

  1. It must change
  2. Go ahead
  3. Sliver of ice
  4. Can't
  5. Scapegoat
  6. It's my fault
  7. Rest
  8. There wasn't enough
  9. Why am I alive now?
  10. You be free
Gesamtspielzeit: 41:24 min

Im Forum kommentieren

Lucas mit K

2024-11-28 17:49:02

Ich finde das Album etwas durchwachsen. Der Opener und „Scapegoat“ gehören zu den besten Songs, die sie bisher gemacht hat. Letzterer einer der besten Songs über Transfeindlichkeit. Diese Lyrics! Brutal.

„Can’t“ hingegen – kurz vor Ende knödelt sie so, dass ich gezwungenermaßen an Herbert Grönemeyer erinnert werde.

Die kürzeren Songs – „Go Ahead“ und „It’s my Fault“ – lassen mich auch bisschen ratlos zurück.

Insgesamt in den starken Momenten sehr stark und in den weniger guten irgendwie ein paar Fragezeichen.

Unangemeldeter

2023-07-11 19:34:05

Genau so geht's mir auch! Super Album!

Bese

2023-07-11 19:15:24

Einfach nur großartig. Holt mich endlich wieder komplett ab.

captain kidd

2023-07-11 15:45:31

Finde I am a bird now und Hopelessness noch einen Ticken stärker. Auch damals tauchte übrigens ein Übersong nicht in den Highlights auf: Fistful of Love. Einer der 10 besten Songs überhaupt. Was für eine Performance auch...

mrnovember

2023-07-10 21:24:14

It must change 8/10
Go ahead 7/10
Sliver of ice 10/10
Can't 8/10
Scapegoat 10/10
It's my fault 5/10
Rest 9/10
There wasn't enough 9/10
Why am I alive now? 8/10
You be free 7/10


Wahrscheinlich ihr bestes Album bisher.

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