Sigur Rós - Átta

Von Dur / BMG / Warner
VÖ: 16.06.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Im Prinzip Hoffnung

Talk about eine richtige Scheißzeit. Sigur Rós wirkten in ihrer intrinsischen Isländischkeit sonst immer über den Dingen und außerhalb der gewöhnlichen Realität stehend. Als 2012 Keyboarder Kjartan Sveinsson die Band verließ, war das erst der Anfang einer Reise zum Boden der Tatsachen. Drummer Orri Páll Dýrason veranlasste inmitten von Vorwürfen sexueller Übergriffe Ende 2018 selbst seinen Rücktritt. In den folgenden Jahren wurde die Band zudem gleich zweimal wegen Steuerhinterziehung angeklagt, erst Anfang 2023 konnten alle Anschuldigungen abgewiesen werden. Musikalisch waren Sigur Rós immer in irgendeiner Form aktiv – hier ein 24-Stunden-Ambient-Projekt, dort ein paar Remixalben und Mixtapes, woanders knapp 20 Jahre alte Archivaufnahmen. Alles okay bis gut, jedoch nicht das, was sich alle erhofften. Es waren leider genug Gründe anzunehmen, dass das großartig-düstere "Kveikur" das letzte richtige Studioalbum bleiben würde.

Doch nicht nur kehrte Sveinsson 2022 zurück. Über ein Jahr später folgt sehr überraschend "Átta", übersetzt "acht", die ebensovielte reguläre Platte von Sigur Rós und ein unmissverständliches Symbol, dass das Trio sich von nichts hat unterkriegen lassen. Der Song "Ylur" wurde bereits auf der vergangenen Tour gespielt. Inmitten all der gewaltigen Epen, die sich vor allem aus den so kargen wie brachialen Landschaften von "( )" zusammensetzten, wirkte das Stück hübsch, aber fast unscheinbar. Es trifft jedoch den Charakter von "Átta". Wer sich fragte, wie die Band ihren abhandenen Drummer nun ersetzen solle, stellt fest: im Prinzip gar nicht. In zwei der zehn Stücke kommt gerade mal eine Kickdrum ins Spiel. Die Kraft stammt mehrheitlich vom mehr als 40-köpfigen London Contemporary Orchestra, mit dem die Band auch parallel zum Release auf Tour geht und welches durch massive Streicherschichten gleichermaßen für Dynamik und Schönheit innerhalb der Platte sorgt. Und einige der wundervollsten Melodien zum Leben erweckt, die Sigur Rós je geschaffen haben.

Der Opener "Glóð" ist so etwas wie ein Warmspielen, einmal mit der gesamten Mannschaft von ganz leise nach ganz laut und wieder zurück. Vokalist Jónsi jubiliert hier, bleibt aber im folgenden "Blóðberg", das nach einer isländischen Pflanzenart benannt ist, vorwiegend im tieferen Register. Die Streicher schwappen wie im Wellengang durch den Song, nehmen an Volumen zu. Es erinnert in der Formlosigkeit oberflächlich an das schüchterne "Valtari", welches jedoch meist den Rückzug antrat. "Átta" sucht dagegen fast immer zu einem bestimmten Punkt die Flucht nach vorn, die Blaupause dafür setzt es gleich im darauffolgenden "Skel", das sich zum schwindeligen Höhepunkt schraubt. Der Hoffnungslosigkeit, die durch die aktuelle Weltlage und Sigur Rós' persönliche Tiefschläge Futter bekommen hat, stellen die Songs ein unbändiges Streben nach Euphorie entgegen. Die brennende Regenbogenfahne auf dem Cover kann neben einem Abbild des Weltgeschehens auch anders gedeutet werden: Wenn wir schon verglühen, dann wenigstens in überwältigender Schönheit.

Entsprechend steht mit "8" als Finale ein so großartiges Stück, wie es eben nur Sigur Rós schreiben können. Mit dem kurzen Track "Fall" als wundervoller Startrampe und einer Struktur zu Beginn, die fast schon klassisches Songwriting aufgreift, lässt die aufbäumende Klimax das ganze Album noch einmal Revue passieren, bevor das Outro die Ambientphase wieder aufgreift. Auf "Átta" geschieht mehr, als es zunächst den Anschein hat. Natürlich wirken vor allem in der zweiten Hälfte viele Songs ähnlich, sodass man sich mehr ambivalente und offensichtliche Geniestreiche wie "Klettur" wünscht, das zwischen Hölle in den Strophen und dem aufbrechenden Himmel im Refrain changiert. Dass die Platte in der Promo-Version als ein langer Track ohne Unterteilungen ausgeliefert wurde, spricht jedoch nicht von ungefähr. In dieses Werk muss man sich fallenlassen, unabgelenkt, mit offenem Herzen, um die tollen Details mitzubekommen. Es geht nicht so sehr um die einzelne Komposition. Es geht in der Summe um das unbändige Gefühl der Hoffnung, auf der größtmöglichen Leinwand aufgetragen.

(Felix Heinecker)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Skel
  • Klettur
  • 8

Tracklist

  1. Glóð
  2. Blóðberg
  3. Skel
  4. Klettur
  5. Mór
  6. Andrá
  7. Gold
  8. Ylur
  9. Fall
  10. 8
Gesamtspielzeit: 56:37 min

Im Forum kommentieren

Felix H

2024-05-24 16:21:41

Jetzt kommt auch wieder die passende Saison dafür. Finde das Album gehört in den Sommer.

The MACHINA of God

2024-05-24 16:04:36

Stong = Stimmung. :D

Martinus

2024-05-24 16:02:35

Sehr schön Machina, bei mir auch.
Gestern erst wieder.
Für mich fügt sie sich sehr gut in deren Diskographie mit ein.
Anderes Thema:
Der Drummer, was genau war mit dem? Warum ist der ausgestiegen? Da gabs doch irgend einen Vorwurf von einer Dame, oder? Aber was genau war das und was ist da dran an der Sache?

The MACHINA of God

2024-05-24 15:36:24

Hör ich immer noch recht oft. Besonders in der Natur oder in ruhiger Stong. Diese Streicher und die ätherische Atmosphäre sind toll.

Armin

2023-09-21 13:09:31- Newsbeitrag

Liebe Musikfreund:innen,

heute erscheint ein neues Video von Sigur Rós aus dem ÁTTA Film Experiment zum Song „Klettur“ unter der Regie von Frosti Jón Runólfsson.

"You're traveling through another dimension, a dimension not only of sight and sound but of mind. A journey into a wondrous land whose boundaries are that of imagination…“ - Frosti Jón Runólfsson

SIGUR RÓS - KLETTUR (Musikvideo)


Beim ÁTTA Film Experiment haben Sigur Rós zehn Filmemacher:innen eingeladen, ihre eigene visuelle Interpretation eines Titels auf ihrem neuen Album „ÁTTA“ zu entwickeln. Alle weiteren Videos findet Ihr hier!

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum