Grian Chatten - Chaos for the fly
Partisan / PIAS / Rough TradeVÖ: 30.06.2023
Versprechen, gebrochen und eingehalten
Wenn der Sänger und Frontmann einer renommierten Rockband sein erstes Soloalbum veröffentlicht, stehen ihm verschiedene Distinktionsmerkmale zur Verfügung. Er kann den radikalen Stilbruch vollziehen, bislang unbekannte Einflüsse sprechen lassen. Er kann im Kontext der Band vorhandene, aber bis dato latente Tendenzen herauskitzeln und sichtbar machen, die sein eigenes Schreiben konturieren. Oder aber er wählt – wie Grian Chatten, unverkennbare Stimmer der gewittrigen Dubliner Post-Punker Fontaines D.C. – den klassischsten Weg: die gezupfte Akustikgitarre in den ersten Sekunden. So beginnt "The score", Opener von "Chaos for the fly", bevor ein sanft pluckernder elektronischer Beat die Texturen erweitert. Chattens monotoner Sprechgesang, seine proletarisch-sensible Lyrik, die eher in der rauhen Tradition Patrick Kavanaghs oder des Dramatikers Sean O'Casey steht als feinsinnige Kunstfertigkeit suggerieren zu wollen, scheinen eine entsprechende Intonierung zu bestimmen. Doch dann überraschen sogleich die sanfte Wärme seines Baritons und ein deutlich milderer Gesang, der dezente Reminiszenzen an keltischen Folk mitsummt.
An verschiedenen Orten seien die Ideen für "Chaos for the fly" entstanden, erzählt Chatten: Vom Blick in den Wellengang an der irischen Ostküste, in tristen, halbvergessenen Kleinstädten künden mindestens zwei von Ihnen. "Last time every time forever" zaubert eleganten Pop aus einem ominösen Bass und melancholisch wiegenden Streichern hervor, lässt Harmonien geschickt ineinandergreifen, bevor Georgie Jesson die zarte Bridge übernimmt. Auch in "Bob's Casino" wartet sie zum Dialog, während die Trompete als Überrest einer Big Band den Schauplatz evoziert: das titelgebende Casino, das – gleich seinen Besuchern – einst bessere Tage gesehen hat. Geisterhaft spinnen die Synthies aus, dann formuliert Chatten seine verwaschene Schlusspointe: "Oh man, youre a fable now." Ohnehin: die Arrangements! Stets subtil und doch mit auf den zweiten Blick beeindruckender Palette reihen Chatten und seine Band einen stilsicheren Song an den nächsten, was dem Album trotz seiner Kompaktheit eine Tiefe verleiht, die erkundet werden will. Man beachte die Cocteau-Twins-Gitarre im verträumten "East Coast bed" oder den formidablen Closer "Season for pain". Der beginnt als einsame Ballade, lässt kurzzeitig aufgerissene Gitarren gegen seine Niedergeschlagenheit aufbranden, um im Outro plötzlich und doch nachvollziehbar Klavier-Stakkato und einen elektronischen Beat unter Chattens Stimmfetzen zu legen.
Mitverantwortlich dafür dürfte nicht zuletzt Dan Carey sein, der als Produzent von Chattens Hauptband, Squid oder Black Country, New Road bereits häufig sein Gespür an den Reglern bewiesen hat. Auf "Chaos for the fly" betätigt er sich zudem als Multi-Instrumentalist. Mit treibendem Bass schiebt er "Fairlies" an, den offensichtlichsten Hit, dessen beschwingtes Tempo von einer wie zu frühen Tindersticks-Zeiten gequält jaulenden Violine kontrastiert wird. Chatten reflektiert über Emigration in ihren verschiedenen Ausprägungen: als Teil der irischen Identität mit Fluchtpunkt Amerika, als persönliche Erfahrung, aber nicht zuletzt auch mit düsterem Gegenwartsbezug. In der Hitze Andalusiens habe er den Song geschrieben, berichtet Chatten, und es fällt schwer, darin nicht einen weiteren Sehnsuchtsort zu sehen, mit doppeltem Boden, im markanten Refrain hymnisch aufbereitet.
Doch meist prägen ruhige Töne seine Songs und kältere Stimmungen ihre Schauplätze: "Salt throwers off a truck" lädt zum winterlichen Streifzug durch New York City, als waschechter Folk mit rabiat angeschlagener Gitarre, die immer wieder von lieblichen Streichern umflirrt wird. Dazu präsentiert Chatten seine stärksten Metaphern, zeichnet ein atmosphärisch dichtes Panorama: "Salt throwers were taming the sidewalks with haste / Til the whole of the city was seasoned to taste." Oder auch: "The world was a yawn fingerprinted by night." Nicht nur lyrisch strotzt "Chaos for the fly" von einer Sicherheit des Ausdrucks, auch musikalisch treibt Chatten seine Ästhetik in andere Richtungen als Fontaines D.C. – was ließe sich Besseres sagen über die historisch schwierige Kategorie des Solodebüts? "Last time every time forever" kommentiert er eloquent wie eh und je: "It's haunted by seagulls and hoarse-throated slot machines from the 1980s and it breaks its own promise on every listen." Seine neun Songs bergen hingegen noch ganz andere Versprechen, auf die sich weitere Hördurchgänge verlassen können.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Fairlies
- Salt throwers off a truck
- Season for pain
Tracklist
- The score
- Last time every time forever
- Fairlies
- Bob's Casino
- All of the people
- East Coast bed
- Salt throwers off a truck
- I am so far
- Season for pain
Im Forum kommentieren
Dulle
2024-08-22 16:51:10
Ich habe auch dieses Album leider auch komplett verpennt. Habe es sogar erst gestern/heute entdeckt, nachdem es im Thread zum neuen FDC-Album erwähnt wurde. Es gefällt mir größtenteils sehr gut!
Grizzly Adams
2024-07-08 19:05:37
Ich bitte um Verzeihung, dass ich dieses Album m letzten Jahr so komplett ignoriert habe. Unabsichtlich zwar, aber das ist ja wie Cucurellas Handspiel. Tolle Veröffentlichung. Unbedingt hörenswert und ein Nachzügler für meine Bestenliste 2023..
Gordon Fraser
2023-12-19 18:34:57
So gut, und so unerwartet nach allem, was man von FDC gehört hat.
The Libertine
2023-12-06 11:46:33
Mega Album. Gefällt mir sogar besser als die letzte Fontaines DC.
Ist in meinen Top 5
saihttam
2023-12-04 22:37:14
Top 10 könnte es auch bei mir werden.
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- Grian Chatten - Chaos for the Fly (24 Beiträge / Letzter am 22.08.2024 - 16:51 Uhr)