Holli - Der erste gute Tag

Problembär / Rough Trade
VÖ: 26.05.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Normaler Sanft

Wenn Stars Hotelzimmer zertrümmern und von Sex, Drugs and Rock 'n' Roll erzählen, dann kann das schon seine Faszination haben. Das Kopfkino geht an, und man stellt sich vor, wie man ohne Rücksicht auf Verluste das Leben der Reichen und Schönen mit all seinen Vorteilen lebt. Aber Überraschung: Der Gedanke hält sich selten länger als ein paar Minuten, bevor er nicht nur langweilig wird, sondern die Realität einen auch wieder einholt. Tobias Paal aka Holli ist auf seinem Debütalbum "Der erste gute Tag" ziemlich weit entfernt von einer Rockstar-Attitüde. Stattdessen wirkt der Österreicher wie ein ganz normaler Mensch – vielleicht sogar einen Ticken zerbrechlicher als die Durchschnittsperson. Aber lieb gemeint. Und das Beste daran? Die Gedanken, die er auslöst, sind auch nach Tagen noch nicht langweilig.

Das liegt vor allem daran, dass er eben nicht von ausschweifenden, exzessiven Partys erzählt, sondern wie so viele Indie-Artists vor ihm von den alltäglichen Tragödien. Aber auch von der Zeit danach. In "Die Idee" singt Paal nur mit einer Gitarre ausgerüstet: "Die Idee von uns war schon ziemlich weit hergeholt." Während er in der Folge die Beziehung Revue passieren lässt, laufen im Zeitraffer die eigenen Scheitergeschichten vor dem inneren Auge ab. Und etwas später heißt es schon: "Es ist beachtlich, was ein Jahr so mit Dir machen kann / Wenn ich heute von uns sprech, fang ich zu lachen an." Bis am Ende des Songs die Liebe auf eine andere Art siegt, weil Holli neu verliebt ist. In diesen nicht mal drei Minuten steht er ganz dicht neben Gisbert zu Knyphausen und schaut sich das Beste bei ihm ab.

Dabei ist "Der erste gute Tag" kein Singer-Songwriter-Album. Die Single "Ein bisschen Zeit" ist auf den ersten Blick ein klassischer, leicht melancholischer Indie-Pop-Song. Aber einer, der kleben bleibt, den man beim dritten Mal schon mitsummt und beim fünften Durchlauf mit zum Singen unter die Dusche nimmt. Denn Holli kommt mit Band, Schlagzeug, Bass und Keys, auch wenn sie nicht in jedem Song eine Rolle spielen. Alles kann, nichts muss. Nur hören sollte man Songs wie "Haufen", das mit sanfter Gitarrenmelodie und hintergründigen Effekten so klingt, als sei Bon Iver persönlich plötzlich der deutschen Sprache mächtig geworden. Und auch kurze akustische Interludes erinnern an Justin Vernon. Der Frauennamenhattrick "Mirjam", "Hannah" und "Lina" könnte allerdings unterschiedlicher kaum sein. Ersterer ist die überraschendste Promi-Erwähnung des Jahres, und Holli fragt sich immer und immer wieder verwirrt und unstrukturiert, warum er Moderatorin Mirjam Weichselbraun nicht in die Augen schauen kann. "Hannah" hingegen ist ein gradliniger Indie-Rock-Song zum Schwelgen und Mitklatschen und "will schon wieder kitschig sein". "Lina" macht noch mal alles anders, flüstert erst mal und wünscht sich unsicher, dass Nähe möglich ist: "Ist da noch Platz? Schmeißt man mich raus? / Ich halte Abstand und das nicht mehr aus." Ein träge wippender Rhythmus zieht sich durch einen Song, der größer wird und die Band in voller Blüte dazuholt.

Das herzzereißende Highlight auf "Der erste gute Tag" handelt allerdings von einem ganz anderen Gefühl der Unerreichbarkeit. "Beifahrersitz" ist einer der großen deutschsprachigen Songs des Jahres. Paal sitzt im Auto neben einer geliebten Person. Eine Autofahrt wie viele andere: "Im letzten Lied dieser CD gibt's einen Teil, bei dem man mitklatscht / Bitte lass das Lenkrad da nicht los, klatsch auf dem Schenkel so wie ich's mach / Wir ha'm die Abfahrt grad verpasst, ist nicht so schlimm, wir neh'm die nächste / Lern das zu schätzen, was Du hast, es reicht auch meistens nur die Geste." Langsam reift die Erkenntnis, dass hier nicht mehr als eine Erinnerung geschildert wird. Der Tod hat zwei Menschen getrennt, und das Beschriebene ist eine Unmöglichkeit geworden. "Einmal möcht ich noch bei Regen am Beifahrersitz oder auf der Rückbank mit Dir durch die Gegend fahren", zerfetzt es einem das Herz. "Und es tut immer noch weh." An der Drei-Minuten-Marke des Songs explodiert alles im lautesten Moment dieses beeindruckenden Debütalbums und hallt noch Tage nach. Die ganz normalen Menschen sind manchmal die interessantesten.

(Arne Lehrke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Ein bisschen Zeit
  • Haufen
  • Hannah
  • Beifahrersitz
  • Lina

Tracklist

  1. Heute
  2. Ein bisschen Zeit
  3. Haufen
  4. Gelb
  5. Mirjam
  6. Hannah
  7. Seit langem
  8. Wann dürfen wir?
  9. Parade
  10. Regen Linz Regen Wien
  11. Nüchtern betrachtet
  12. Lina
  13. Beifahrersitz
  14. Die Idee
  15. Strategien
Gesamtspielzeit: 38:13 min

Im Forum kommentieren

Arne L.

2023-06-02 14:23:54

@MasterOfDisaster Total fair! In der beiliegenden Pressemail stand bei dem Song "Der Tod" als Thema. Aber grundsätzlich total nachvollziehbar, dass man den Song auch anders wahrnehmen kann.

MasterOfDisaster69

2023-06-02 13:48:10

Danke fuer den Song ""Beifahrersitz", allerdings hoere ich nicht raus, dass der Tod die "Beiden" auseindergerissen hat. Eine Beziehung zB kann auch aus anderen Gruenden unwiederruflich zuende gehen...

In diesem Sinne: Carpe Diem !

Armin

2023-05-31 21:13:43- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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