
Bar Italia - Tracey denim
Matador / Beggars / IndigoVÖ: 19.05.2023
Schaut her, wir sind unsichtbar.
Beliebtes Phänomen in der Musikgeschichte: Menschen stehen im Rampenlicht, um zu zeigen, wie viel lieber sie im Verborgenen geblieben wären. Scheu, ob inszeniert oder nicht, weckt Interesse, kreiert Mysterien. Bar Italia scheinen dieses Spiel sehr gut zu kennen, denn selten gab es wohl in der jüngeren Vergangenheit eine introvertiertere Band, die zur nächsten Indie-Sensation des Vereinigten Königreichs erklärt wurde. Nach zwei Kurzalben legt das Londoner Trio um die in Italien geborene Nina Cristante sowie Sam Fenton und Jezmi Tarek, die schon als Duo unter dem Namen Double Virgo schrulligen Rock veröffentlicht haben, nun sein echtes Debüt vor, das von einer bemerkenswerten stilistischen Sicherheit zeugt. Bereits der Opener "Guard" entwirft den Sound, der in der folgenden Dreiviertelstunde meist nur geringfügig variiert wird: Ein sanft vertrackter Schlagzeugtakt grundiert die präzisen Gitarren, dezente Elektronik und Piano-Loops. Dazu singt Cristante, als wäre sie gerade aus ihrem Sonntagnachmittagsschläfchen erwacht – stets herrscht auf "Tracey denim" eine träumerische Entrückung, welche die Texte nur noch verstärken. "You ask what happens when the future moves too fast": Der Blick in die Kristallkugel und vor allem den Spiegel ist allgegenwärtig in diesen 15 Songs.
Viel dürften sich Bar Italia von Broadcast abgeschaut haben, die mit ähnlichen Stimmungen zu arbeiten pflegten, obgleich "Tracey denim" noch direkter zum Punkt seiner LoFi-Ästhetik kommt. Markant ist zudem der Wechselgesang zwischen Cristante und ihren Bandkollegen, der sehr viel häufiger zu hören ist als gemeinsame Harmonien. Die Single "Nurse!" macht sogleich vertraut mit den Protagonisten: Sam Fenton steuert den Refrain zum Grunge-lastigen Indie-Pop bei, erinnert an Julian Casablancas und Sebadohs Lou Barlow, nachdem Cristante einmal mehr rätselhaft-vages Miteinander auslotet: "Come here, join me in the silence / We need undoing to set us free." Tarek wiederum gibt im Outro die dritte Stimme der Band: leicht schiefe, monotone Coolness, die den Effekt verstärkt, es mit zurückgezogenen, sich ihrer Hyperreflexivität bewussten Künstlerfiguren zu tun zu haben. Dann fransen die Gitarren atmosphärisch aus und verhallen. Das wirkt einerseits überaus gekonnt, aber eben auch auf stetige Distanz bedacht, kontrolliert und kalkuliert. In "Punkt" formuliert Fenton zu ominös verwobenen, hypnotischen Gitarren eine evokative These, die aber zugleich seltsam unbestimmt bleibt: "Fear has a fetish for eyes." Bar Italia deuten gerne an, doch bleibt mitunter fraglich, ob jenseits des Deutens überhaupt etwas wartet.
In der Folge artikuliert "Tracey denim" seine post-moderne Selbstentfremdung, sein permanentes Vexierspiel zunehmend deutlicher: "I know you only love me when I'm not around / I'm sure that I could fake it if I make up my mind", heißt es in "F.O.B." - die Coolness der Band erweist sich zunehmend als Bürde. In "My kiss era" diagnostiziert Fenton mit großem Ernst, den man gerne brechen würde: "All my favourite people are misunderstood." Musikalisch vertrauen Bar Italia dabei meist ihrer bewährten Formel, vielleicht nirgends so überzeugend wie im famosen "Missus Morality". Eine zarte, subtile Gitarrenmelodie strukturiert die schmerzhafte Isolation in den Strophen, bevor im Refrain berückende Shoegaze-Wolken vorbeiziehen.
Und auch wenn manche Songs etwas unmotivert daherkommen, nicht bloß thematisch, sondern auch in ihrer Komposition gehemmt und repetitiv erscheinen, deuten Bar Italia immer wieder ihr großes Potenzial an. In den federleichten Gitarren von "Changer" setzt eine stärkere Entrückung ein, die das düstere "Horsey girl rider" mit Melodiefetzen aus The Cures "Pornography"-Ära fortsetzt. Und zum Ende klart "Tracey denim" dann überraschend auf, wenn "Friends" zunächst knackigen, brutzelnden Power-Pop nach vorne treibt und das abschließende "Maddington" mit flirrenden Akustikgitarren und Streicherwirbeln ein wenig Öffnung zeitigt. Denn wie die dialogisch zwischen Cristante und Tarek aufbereitete scheiternde Intimität in "Best in show" treffend festhält: "I can stay the night, but I can't be open." Manche Geschichten sind schnell auserzählt, wenn sie zu nah bei ihrem Erzähler bleiben. Wie sie gekonnt Atmosphären schaffen, wissen Bar Italia sehr gut – der nächste Schritt heißt, sie mit Leben und Risiko zu füllen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Nurse!
- Missus Morality
- Changer
- Friends
Tracklist
- Guard
- Nurse!
- Punkt
- My kiss era
- F.O.B.
- Missus Morality
- Yes I have eaten so many lemons yes I am so bitte
- Changer
- Horsey girl rider
- NOCD
- Best in show
- Clark
- Harpee
- Friends
- Maddington
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myx
2023-12-07 21:22:39
Zählen klar zu den grossen Entdeckungen des Jahres. Und ja, mir ist dieses Album hier auch lieber und hat einen Platz in meinen Top 10 verdient.
Live haben sie es auch richtig drauf, dann mit Bassistin und Schlagzeuger zum Quintett erweitert. Durfte sie vor ein paar Wochen in St. Gallen erleben. Besonders Gitarrist Sam Fenton ist richtig klasse und stach aus einem guten Kollektiv noch heraus.
Glufke
2023-12-07 20:50:09
Hab die Band erst vor wenigen Wochen entdeckt, musste mich aber erstmal rein hören. Dieses Album gefällt mir noch einen Tacken besser als das zweite aus diesem Jahr. Wächst seit gestern nochmal deutlich. Interessant auch, wie viele Bands hier raus gehört werden. Blonde Redhead und Slowdive unterschreibe ich und würde noch Monochrome ergänzen.
myx
2023-10-30 20:41:20
Schöne Überraschung! Danke für die News, cargo.
Earl Grey
2023-10-30 20:19:48
Ein tolles Album. Habe ich dieses Jahr beim Packen für den Griechenland Urlaub kennengelernt… beim Hören kommen also immer die schönen Gedanken mit einer gewissen Melancholie zurück.
@Cargo
Danke für den Hinweis, ich bin gespannt auf das zweite Album.
cargo
2023-10-30 19:12:23
Am kommenden Freitag erscheint mit "The Twits" bereits das nächste Album. Vorab-Songs klingen sehr vielversprechend.
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