Autobahn - Ecstasy of ruin
Tough Love / CargoVÖ: 28.04.2023
Klassenkampf wie Prasselkuchen
"Ruinieren wir uns heile", forderten die Berliner Indie-Rock-Hedonisten Tüsn Anfang 2023. Autobahn sind schon einen Schritt weiter – nur dass beim Quartett aus Leeds gar nichts mehr heile wird. Nicht, wenn es nach dem dritten Album geht, denn hier lautet die Antwort auf die Frage, wer nach dem Untergang der Gesellschaft dran glauben muss: alle. "Ecstasy of ruin" tütet die Menschheit ein und begräbt sie zusammen mit Raubtier-Kapitalismus, verfehlter Politik und der Unfähigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen. "The moral crossing"? Längst mit einer Blechlawine verstopft, inmitten der sich die Leute gegenseitig an die Gurgel gehen, während dunkler Qualm die Luft verpestet. Man könnte nun einwenden, dass ein solches Szenario in den Ballungsräumen Nordenglands an der Tagesordnung ist – doch diesmal meinen es Craig Johnson und Kollegen besonders ernst.
Denn "Ecstasy of ruin" treibt die Entmenschlichung ihres Sounds konsequent voran, indem eine Drum-Machine und getriggerte Sample-Beats kurzerhand Ex-Schlagzeuger Liam Hilton ersetzen. Charme des Unperfekten und Fluffigkeit raus, Rigidität und eiskalte Präzision rein. Bei Autobahn ist alles post: Post-Punk, Post-Apokalypse, Post-Humanität, Kom-post – und wenn es nur der ist, auf dem sämtliche Errungenschaften der Zivilisation landen. Man höre dazu die "Post-history" des Openers: Unerbittliche maschinelle Rhythmen rattern mit perkussivem Industrial um die Wette, die Riffs hinterlassen tiefe Ätzgravuren, Johnson verkündet in ungerührtem Gesangs-Sprech das Ende aller Tage. Beim ähnlich aufgesetzten Closer ist der "Class war" längst verloren – Klassenkampf wie Prasselkuchen mit eingebackenen Metallsplittern. Dunkelgrauer wird's nicht.
Zwischen diesen beiden Songs sieht es nicht groß anders aus, auch wenn Autobahn zusehends mit der knorrigen Rock-Tradition ihrer Heimatstadt brechen, von wo aus The Sisters Of Mercy oder Red Lorry Yellow Lorry einst grimmigen Proto-Gothic in die Welt schickten. Durchlaufende Sequenz und ein Purzelbäume schlagender Drum-Break im fett nach vorne gehenden "Silver" wirken vielmehr wie eine ausgesucht lichtlose Spielart von Electronic Body Music – oder als wäre Ben Watkins, Mastermind des tribalistischen Technotrance-Budenzaubers Juno Reactor, lebenslänglich auf "Jo's so mean to Josephine" von seinem früheren Duo The Flowerpot Men hängengeblieben. Auch das großartig zischige "Acid child" hat mehr von Suicide als von den im Bandnamen festgeschriebenen Kraftwerk. Und zumindest eingangs vermisst man Gitarren im Grunde gar nicht.
Dass diese trotzdem ihren Platz finden, versteht sich von selbst. Schon im treffend betitelten "Tension" ergänzen sich scharfe Kreise ziehende Leads bestmöglich mit einem verspielten Keyboard-Backdrop, nachdem die Sechssaitige beim Finale von "Fields of blood" noch in einem Stahlbad aus übersteuertem Noise versunken war. Mit "Vanity" klotzen Autobahn sogar einen finsteren Batzen Dark Wave in die Einöde. Post-Punk? Deutet sich immerhin per "Transmission"-Bass zu Beginn des mächtigen "Breather" an, wo im Hintergrund ständig drohend ein Smartphone von der Größe eines 3D-Druckers zu vibrieren scheint. Zumal Teile dieses Albums mit den Geräten eingeschweißt wurden, die damals im Studio des Joy-Division-Produzenten Martin Hannett standen. Doch nicht nur darum ist "Ecstasy of ruin" fast so schrecklich schön wie eine "Atrocity exhibition".
Highlights & Tracklist
Highlights
- Post-history
- Silver
- Acid child
- Breather
Tracklist
- Post-history
- Silver
- Acid child
- Fields of blood
- Tension
- Cylinder
- Ecstasy of ruin
- Breather
- Vanity
- Class war
Im Forum kommentieren
Klaus
2023-05-16 09:24:39
Okay. Heute mal den Vorgänger gehört. Der ist schon sehr anders, aber sogar noch schöner. Weniger EBM, mehr Violinen.
VelvetCell
2023-05-16 09:16:55
@Klaus: Leider keine weiteren Tourdaten. Die Loretta hat angekündigt, dass das Konzert in Planung ist.
Autotomate
2023-05-15 20:54:32
Gut, hab ich verstanden, aber Lebowski hin oder her, ich finde den Bandnamen halt kacke :)
AliBlaBla
2023-05-15 20:50:10
@Autotomate
Kurze Antwort, sorry für off topic:
Nein Nein, den Namen finde ich SUPER (wirklich), auch für die beschriebene Musik (kenne jetzt nur die Rezension, und die Joy Division/EBM Anklänge), das war ja auch super witzig in "The Big Lebowski", aber wir werden ja sicher nicht die einzigen sein, die das wiedererkennen.
Versucht man doch zu vermeiden,... naja.
Das nächste Mal garantiert zu zu der MUSIK:
ALI
Autotomate
2023-05-15 20:45:26
Umpf, ich merk's manchmal einfach nicht :) Ja, gebe dir recht, wobei der Bandname auch ohne Recherche nicht besonders gut gewählt ist.
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