Susanne Sundfør - Blómi

Bella Union / [PIAS] Cooperative / Rough Trade
VÖ: 28.04.2023
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Die Messe ist noch nicht gelesen

Am Anfang war das Rauschen. 22 Sekunden davon, um genau zu sein, bevor Susanne Sundfør zu philosophieren beginnt, von einer Balance des Seins und schwarzen Löchern erzählt. Die musiklose Abstraktion des eröffnenden "Orð vǫlu" greift dessen Schwesterstück "Orð hjartans" am Ende wieder auf, umrahmt "Blómi" damit auf eine Weise, die dessen Inhalt nicht vollumfänglich gerecht wird. Die Norwegerin, die schon Nordkorea und den Regenwald bereist hat, würde am liebsten die ganze Welt auf einmal erfassen. Ihr sechstes Album sei inspiriert von altnordischer Mythologie und Sprache – man beachte die Songtitel –, soll ihren fast 100-jährigen Linguisten-Opa gleichermaßen würdigen wie einen optimistischen Liebesbrief an die kleine Tochter formulieren. Wenig erinnert daran, dass die Frau vor gerade einmal zwei Platten noch recht zugänglichen Elektro-Pop gemacht hat. Doch was hier zwischen den zwei Spoken-Word-Experimenten an reduzierter, atemanhaltender Schönheit erklingt, erstickt alle vorschnellen Vorwürfe bereits, bevor sich die Buchstaben zum Unwort "verkopft" zusammensetzen können.

Es muss also niemand eine Bibelstunde befürchten, wenn "Ashera's song" einer semitischen Göttin huldigt, die laut einiger Interpretationen als Lebensgefährtin Jahwes verehrt wurde, bevor sich der Monotheismus durchsetzte. Vielmehr nutzt Sundfør die durch Aschera verkörperte Fruchtbarkeit als Symbol, macht damit von Anfang an ihre Haltung klar – und wenn diese jede negative Emotion wegspülende Heiltinktur aus Piano, Streichern und Gesang die Welt nicht vor dem Untergang retten kann, sind wir wirklich verloren. Kaum weniger könnte sich Sundfør dabei für Hooks und Bruchmomente interessieren, ihre Musik bleibt umso länger, weil sie ihre Hörer*innen ohne Aufmerksamkeitsgier umschließt. Was nicht heißt, dass "Blómi" die Dynamik fehlt: Der Titeltrack groovt sich als angejazzter Schleicher mit Saxofon und Chören unter die Haut, wo er sich mit einer solchen melodischen Eleganz festkrallt, wie sie eine Tori Amos nicht versierter aus den Tasten gestreichelt hätte.

Die gleichzeitige Intimität und Unnahbarkeit ist das größte Faszinosum dieser zehn Stücke. Sundfør umgibt jeden Ton mit einer heilig strahlenden Aura, ohne als Priesterin von oben herab zu predigen. Eine folkige Akustikgitarre buddelt das nach dem Himmel strebende "Rūnā" mit beiden Füßen in den Boden ein, auf dem auch der unpathetische Gospel von "Fare thee well" bleibt – und die einladende Augenhöhe des nur mit Vogelzwitschern, Handclaps und leiser Percussion geschmückten Community-Songs "Leikara ljóð" leidet selbst dann nicht, wenn in der Schlussminute eine irisch anmutende Geige ihr Solokonzert spielt. Nicht der größte Überraschungsmoment des Albums: "Ṣānnu yārru lī" leiht sich seinen Torkel-Beat aus Tom Waits' Whiskey-Schrank und die Flöten aus Björks Baumhaus, während Sundfør auf Deutsch (!) einen Text aufsagt, der aus einem metaphernreichen Billig-Erotik-Roman stammen könnte. Wo sie den herhat, wissen wir nicht, ob das ernst gemeint ist, genauso wenig. Fakt ist: Musikalisch fesselnder in Szene gesetzt und auf seltsame Weise unterhaltsamer haben Zeilen wie "Du sollst den Boden brechen, mein Steifer" selten geklungen.

Vielleicht hat die im klangvollen Haugesund geborene Frau einen solchen Auflockerungsmoment auch einfach selbst gebraucht, nachdem sie in "Alyosha" alles aus sich ausgeschüttet hat: Die hier besungene Person erhält eine Liebeserklärung, wie sie erhabener und bewegender kaum sein kann. Sundfør darf auch mal schmettern wie Adele, weil sich jedes in ihrer Stimme zitternde Gefühl wie das eigene anfühlt. Ihre Kirche ist frei von jeder sakralen Einschüchterung, umhüllt ihre Gäste im hoffentlich nicht komplett realitätsfernen Glauben, dass die ganze Sache mit der Menschheit doch noch irgendwie gutgehen wird. Und das ist ein Geschenk, das die zweijährige Tochter und der 100-jährige Opa genauso gut gebrauchen können wie alle anderen.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Ashera's song
  • Blómi
  • Rūnā
  • Alyosha

Tracklist

  1. Orð vǫlu
  2. Ashera's song
  3. Blómi
  4. Rūnā
  5. Fare thee well
  6. Leikara ljóð
  7. Alyosha
  8. Ṣānnu yārru lī
  9. Náttsǫngr
  10. Orð hjartans
Gesamtspielzeit: 46:04 min

Im Forum kommentieren

Unangemeldeter

2023-05-17 16:13:57

Nee, bei aller Liebe zum Rest des Albums, bei Ashera's Song muss ich unangenehm an Andrew Lloyd Webber denken, der geht tatsächlich einfach gar nicht. Aber wer weiß, vielleicht macht auch der mal noch Klick.

Edrol

2023-05-17 14:30:09

Ja, ich finde den auch wunderbar, vor allem hintenraus.

MopedTobias (Marvin)

2023-05-17 14:15:14

Finde es eher verrückt, dass ihr "Ashera's song" so unhörbar findet. Purster, schönster Wohlklang. Immerhin Edrol gibt auch 9/10 :)

Unangemeldeter

2023-05-17 12:45:34

Selbiges bei mir, auch wenn ich die Eier von Satan nicht skippen muss, der gibt mir auch musikalisch was. Intro und Opener muss ich aber auch jedes Mal überspringen, verrückt das letzterer sogar bei den Highlights in der Rezension gelistet ist. Alles ab Track 3 dann wunderbar.

Enrico Palazzo

2023-05-17 10:58:44

Wow, ein richtig schönes Album! Steht bei mir aktuell sicher bei einer 8/10 - es wäre sicher noch mehr drin, würde ich nicht immer erst bei Track 3 einsteigen und zwischendurch "Die Eier von Satan" skippen müssen.

1,2 und der zweite Spoken Word Track halte ich nicht aus. :) Schade!

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