Nabihah Iqbal - Dreamer

Ninja Tune / Rough Trade
VÖ: 28.04.2023
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Daisies of the galaxy

Wie hat Nabihah Iqbal, ihres Zeichens hauptsächlich am Computer musizierende Künstlerin, Radio-Moderatorin und Dozentin, wohl den Lockdown verbracht? Wahrscheinlich am Laptop an neuen Songs gewerkelt, Sendungen konzipiert, Online-Vorlesungen gehalten? Weit gefehlt: Weil Anfang 2020 sowohl ins Studio der Londonerin eingebrochen wurde, als auch ihr Opa eine Hirnblutung erlitt, flog sie zu ihren Großeltern nach Pakistan. Dort machte sie sich selbst den Kopf frei, entwickelte ohne digitale Hilfe Grundgerüste für Songs und lernte viel über Botanik – dass eines dieser neuen Stücke den Titel "Sunflower" trägt, kommt sicher nicht von ungefähr. Die Hinwendung zum Organischen ist keine Kehrtwende für Iqbal, die bereits auf ihrem Debüt unter Klarnamen "Weighing of the heart" die Elektro-Klinik ihres früheren Alias Throwing Shade für Ausflüge unter den Shoegaze-Himmel verließ. Doch auf der Ur-Suppe von Slowdive, My Bloody Valentine und Co. eigene Linien zu ziehen, ist nur einer der Pfade, die "Dreamer" einschlägt.

So koppelt besagtes "Sunflower" Anne-Clark-Gedächtnis-Sprechgesang mit einem verspielten Bass, atmenden Ambient-Flächen und einem pumpenden Beat, dessen Blätter auch in schrägeren Winkeln wachsen. Im Kontrast dazu kommt der Opener "In light" fast sieben Minuten lang nur mit einem Herzschlag als Rhythmus aus, wiederholt seine Titel-Worte so oft über vertraut-verwaschenen Synths und Gitarren, bis alles eine grau strahlende Wolke aus Hall formt. Iqbals Kunst ist es, solche abseits ihrer gemeinsamen Neunziger-Assoziationen disparaten Stil-Ansätze in eine bruchlos fließende Platte zu montieren, Genre-Grenzen dabei jedoch intakt zu lassen. Ihr minimalistisches Songwriting gibt jedem Stück Raum zur Ausbreitung, ohne es in unnatürliche Richtungen zu drängen – ganz anders als die um ständige Dekonstruktion bemühten Kolleg*innen von Sweet Trip etwa –, und trägt so die Stimmung von Track zu Track weiter.

"Let your emptiness overflow", verkündet das von The-Cure-Gitarren und The-Cure-Bass angeschwärzte "This world couldn't see us", ein Stück treibender Weltuntergangsromantik, das zuvor den Staffelstab vom Uptempo-Dream-Pop des Titeltracks übernommen hatte. Doch Leere ist in Wahrheit das Gegenteil von dem, was "Dreamer" in seiner Reichhaltigkeit erzeugt. "Lilac twilight" schrammelt sich in der Zwischenwelt des Albums in eine Akustik-Trance, ehe der progressive House von "Gentle heart" die Hypnose auf die industriekalte Tanzfläche überträgt. "Sweet emotion (Lost in devotion)" schwebt mit einer solchen mysteriösen Zärtlichkeit im Synth-Äther, wie sie Julee Cruise nicht feiner justiert hätte. Alles fließt so selbstverständlich ineinander, dass man sich fragt, warum sich Shoegaze und Techno nicht immer gegenseitig auf die Partys des Anderen schleppen.

Zweifelsfrei prägt die Platte eine gewisse Monotonie: Wenn in "A tender victory" satte Drums und verzweigte Saiten-Texturen einsetzen, verwandeln sie ihn in einen der wenigen Songs, denen sich eine Steigerung von der Ausgangsidee attestieren lässt. Doch ist die rauschhafte Wiederholung nicht die Essenz der von Iqbal geliebten Genres? Beim Hören von "Dreamer" entsteht jedenfalls nie das Gefühl, dass zum vollen Impact seines die Außenwelt anhaltenden Wohlklangs-Sogs irgendetwas fehlen würde. "I'm lost in your mystery / So gentle, so deep", sang Iqbal zuvor in Richtung der für sie so bedeutsamen Sonnenblume, pointiert damit jedoch auch den vorherrschenden Effekt ihrer Musik – und wenn das wuchtige Finale "Closer lover" endgültig abhebt, bekommt auch die Zeile "You left your soul on the earth" einen neuen Kontext. Die Flora des restlichen Universums wartet schließlich noch darauf, entdeckt zu werden.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • This world couldn't see us
  • Gentle heart
  • Closer lover

Tracklist

  1. In light
  2. Dreamer
  3. This world couldn't see us
  4. Sunflower
  5. Lilac twilight
  6. Gentle heart
  7. Sky river
  8. Sweet emotion (Lost in devotion)
  9. A tender victory
  10. Closer lover
Gesamtspielzeit: 44:40 min

Im Forum kommentieren

saihttam

2024-10-22 16:03:37

KEXP-Session

Wow, was für ein unfassbar bewegendes und sympathisches Interview! Dazu klingt die Musik auch echt toll. Habe den Namen schon länger auf dem Schirm, aber irgendwie noch nie in ihre Alben reingehört. Das muss ich nun schleunigst ändern.

Martinus

2023-04-23 12:52:50

Dann halt ich mein Öhrchen wieder weg.
Ha Ha.

Stephan

2023-04-23 12:26:26

Große Vorfreude auf das Album! Finde alle Vorabsongs stark und würde bei den Referenzen recht weit vorne die Pet Shop Boys ergänzen.

Martinus

2023-04-19 22:06:49

Bei den Referenzen werd ich definitiv schwach und werde daher ein Öhrchen riskieren.

Armin

2023-04-19 21:17:15- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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