FACS - Still life in decay
Trouble In Mind / CargoVÖ: 07.04.2023
Kuss ohne Wiederkehr
Fühlen Sie sich manchmal leer? FACS im Jahr 2020 auf "Void moments" offenbar schon. Zum Release plakatierten die Chicagoer ihre Homebase mit der Aufforderung, eine angegebene Nummer zu wählen und von den eigenen unerfüllten Augenblicken zu erzählen, um die Geschichten anschließend in ein Musikprojekt zu integrieren. Dann kam die Pandemie, und es wurden recht viele Anrufe. So viele, dass das Trio daraus die teils erschütternde "Void moments radio show" erstellte, in der unter anderem eine Pflegekraft berichtete, sie könne ihren Mann und ihre Kinder nicht mehr küssen – aus Angst davor, sie anzustecken. Außerdem nutzten FACS den Lockdown für ihren vierten Longplayer "Present tense", dessen schneidende Installationen aus Gitarren-Noise und strengen Rhythmen die runtergerockten Räumlichkeiten des Covers trefflich illustrierten. Wie in den wortkargen Songs von Brian Case und Kolleg*innen üblich, war damit jedoch noch lange nicht alles gesagt – was "Still life in decay" nun zu einer Art Post-COVID-Punk macht.
Beruhigend ist die hiesige "Constellation" dennoch nicht: Zu alarmiernd schrillt der Synthie zu Beginn, ehe der Opener in einen schleifenden, unrunden Groove verfällt, bei dem Drummer Noah Leger der baufälligen Bude jederzeit Struktur verleiht. Wenigstens etwas zum Festhalten, zumal ein plötzlich aufploppendes, minimalistisches Lick-Zwischenspiel so zum Zerreißen gespannt ist, dass man sich lieber nicht daran entlanghangeln möchte. Erst recht nicht, wenn Case schnarrend und mit den Worten "The whole point of no return is don't come back / Absolution, you're released from love" die Scherben einer gerade explodierten Beziehung aufkehrt. Ähnlich funktioniert "When you say" – nur, dass Alianna Kalabas Bass noch eine Spur scharfkantiger durch das Stück hackt, während der Frontmann "When you say nothing / When you say no" nörgelt und die Instrumente mit einem übersteuerten, beinahe atonalen Frontalzusammenprall antworten. Danach läuft die repetitive Drei-Mensch-Maschine gnadenlos weiter. FACS können nicht anders.
Viel Platz für Genrefremdes wie den ungelenken HipHop-Beat, auf dem "Strawberry cough" von "Present tense" aufgesetzt war, ist da nicht. Auch die verdrehten Dub-Fetzen, die das "Irreal"-Album vom Vorläufer Disappears prägten, bleiben draußen – abgesehen davon, dass es sich beim geräuschig kreisenden "Slogan" im Grunde um einen einzigen großangelegten Loop handelt und "Class spectre" in elektronischem Reverb endet. Haben drei Minuten lang lediglich verhallte Texturen das Wort, könnte man fast an die Australier My Disco und ihre radikal reduzierte Atmosphärenmusik ohne Musik denken, aber ganz so entkernt geben sich FACS nun doch nicht. Im Gegenteil: Der zehnminütige Closer "New flag" erinnert sogar an die überlangen Tracks, die Sonic Youth in ihrer Spätphase ab "Murray Street" gelegentlich auspackten: großartig geisterhafter Indie-Rock aus einem zum Künstler-Loft umgebauten Reinraumlabor. Allemal passend, denn dieses wäre vor allem eins: ziemlich leer. Also so, wie sich bekanntlich jede*r manchmal fühlt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- When you say
- New flag
Tracklist
- Constellation
- When you say
- Slogan
- Class spectre
- Still life
- New flag
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Armin
2023-04-19 21:16:55- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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