The Tallest Man On Earth - Henry St.
Anti / IndigoVÖ: 14.04.2023
Neue Ufer
Ein Schiff zu fahren, ist Teamarbeit. Solange uns künstliche Intelligenzen noch nicht mit der Autonomie aller Transportmittel beglückt haben, müssen diverse menschliche Rädchen ineinandergreifen, um den Kahn über Wasser zu halten und von A nach B zu bringen. Wahrscheinlich hat Kristian Matsson nicht um so viele Ecken gedacht, als er ein schwer erkennbares Wassergefährt auf dem Cover seines sechsten Albums platzierte, doch werten wir es einfach mal als Symbol für das dahinterstehende Teamwork. "Henry St." ist schließlich die erste Platte, die The Tallest Man On Earth gemeinsam mit einer Band aufnahm, bestehend etwa aus Mitgliedern von Bon Iver und Sylvan Esso. Das merkt man: Gerade im Vergleich zum besonders ruhigen Vorgänger "I love you. It's a fever dream." schlingt sich die brüchige Stimme des Schweden um üppiger ausgeschmückte Folk-Gerüste. Skandinavische Idyll-Landschaften in Grün, Blau und Braun bleiben der erste Assoziationspunkt, doch glühen auch ein paar Lichter der Großstadt durch die Kompositionen. Kein Wunder, dass der Albumtitel eine Straße in Matssons früherer Wahlheimat New York meint – man kann sich wunderbar vorstellen, wie der in Wahrheit eher kurze Mann die Songs auf einer Dachterrasse des Big Apple performt.
So zupft sich der Opener "Bless you" in die gewohnte akustische Gelassenheit, hinter der gar nicht mal so gemütliche Themen wie Herzschmerz und andere innere Unruhen warten. Sobald jedoch Piano, Drums und später auch Bläser einsteigen und die Elektrische von mehreren Seiten an der Blockhütte nagt, wird auch die Oberfläche schroffer. Matsson ist nicht der einzige Irgendwas-mit-Folk machende Mensch, dem man zuweilen vorwirft, es sich in seiner gefahrenlosen Schmuseecke zu bequem zu machen. Ein Album wie "Henry St.", das gleichzeitig mit entspannter Grundstimmung Traditionen wahrt und dennoch nie stillsteht, lässt derartige Kritik ins Leere laufen. Die erste Single "Every little heart" durchzieht nicht ganz die jazzige Dringlichkeit eines Bill Callahan auf "Ytilaer", ist aber auch nicht allzu viele Saiten-Stolperer davon entfernt. TJ Manieri haut einen polyrhythmisch zitternden Groove aus den Fellen, während Matsson seine Stimme wie Klampfe unvorhersehbare melodische Wendungen nehmen lässt und irgendwann den Mond anheult. Der eruptive Americana-Rocker "Slowly rivers turn" fährt im Anschluss ein paar Stromschnellen hinab, ehe ein frei aufspielendes Saxofon das Boot an Land holt.
Der zentral platzierte Titeltrack markiert eine Zäsur. Nur vom Klavier begleitet, singt der 39-Jährige seine Selbstzweifel in die Zwischenräume der impressionistischen Tasten, irrt durch die Vereinigten Staaten und fragt sich, ob man sich an ihn erinnern wird. So ruhig bleibt der Rest der Platte nicht – das macht gleich der fidel unter der Frühlingssonne hüpfende Pusteblumen-Pop von "In your garden still" klar, ohne viel Zeit zu verlieren. Dennoch geht der zweiten Hälfte von "Henry St." zu gewissen Teilen die Abenteuerlust der ersten ab, was angesichts Matssons ungebrochener Songwriting-Künste jedoch nicht weiter schlimm ist. Vor allem das späte Highlight "New religion" zieht ein emotional tief ins Fleisch drückendes, Streicher-umschmeicheltes Wohlklangs-Panorama hoch, das sich gen Ende kurz selbst zu überwältigen droht. Als würde man beim verträumten Schlendern durch den New Yorker Hafen plötzlich ins Wasser plumpsen – doch das Rettungsschiff steht schon bereit, und der Mann mit der Kapitänsmütze am Steuer ist zum Glück nicht Florian Silbereisen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Every little heart
- Slowly rivers turn
- New religion
Tracklist
- Bless you
- Looking for love
- Every little heart
- Slowly rivers turn
- Major League
- Henry St.
- In your garden still
- Goodbye
- Italy
- New religion
- Foothills
Im Forum kommentieren
smallest fan on earth
2023-12-06 03:06:28
Wie meinem Benutzernamen anzusehen ist, einer meiner Lieblingsmusiker ... Scheint aber nicht mehr so die große Resonanz hier zu finden - woran liegt's? Es ist ja nicht so, dass er seine Musik nicht verändert hätte (Bandalbum, Coveralbum, mehr Pop-Einfluss) ... Habe zwar auch eine Nostalgie nach den ersten 2-3 Alben, aber kann ihm auch seither gut folgen bei dem, was er macht (schon oft live gesehen, immer begeisternd und sehr sympathisch vom Eindruck her). Auf dem letzten Album sind meine Highlights Looking for love, Major League, Henry St. und New Religion. In your garden still nervt mich aber immer nach dem wunderschönen und ruhigen Titeltrack.
jo
2023-04-12 21:14:48
Doch, siehe Rezension. Ein ganz tolles (komplett eigenes) Album :).
Martinus
2023-04-12 21:10:14
Ich freu mich auch.
Hab seit Dark Bird is Home nichts mehr von ihm gehört.
Warum eigentlich nicht, die war super...
Ist seit dem nichts erschienen?
Armin
2023-04-12 20:37:00- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
jo
2023-03-06 21:04:04
Freue mich schon auf das Album. Leider nur sehr spärlich, die Deutschland-Termine...
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