Hendrik Otremba - Riskantes Manöver
Trocadero / IndigoVÖ: 31.03.2023
Bring mich zum Wagen
Mit eingeschränkter Hoffnung kannte sich Hendrik Otremba schon auf "No future days" aus, dem letzten regulären Album der Gruppe Messer. Und auch solo ist die Zukunft beim Wahlberliner Musiker, Schriftsteller und bildenden Künstler nicht das, was sie mal war. Auf seinem ersten Longplayer unter eigenem Namen genauso wenig wie in seinen Romanen. "Riskantes Manöver" ist zweifelsohne ein solches – jedoch kein unbedingter Emanzipationsversuch von seiner Band, sondern gedanklich seit über zehn Jahren in der Mache. Otremba – oder vielmehr ein Protagonist namens '66 – stapft darauf mit oft charakteristisch angewidertem Näseln durch eine postapokalyptische Einöde, in der Pop, Erzählung und Cineastisches zuweilen verschwimmen. Willkommen in der abgedunkelten Welt eines emotional nackten, unzuverlässigen Erzählers mit bandagiertem Gesicht.
Folglich wird nie ganz klar, wo man sich in dieser musikalisch unwägbaren Dreiviertelstunde befindet. Fest steht nur: Es wird anstrengend, frustrierend, grau und ein wenig nervig. Ach ja: Das Wetter wird auch scheiße. Zumindest in der perkussiven Moritat "Im Pelzmantel, Cretin". Diese wächst sich zum bassig paukenden Geräusch-Sturm aus und pflanzt Zeilen wie "Es zittert, alles wackelt ohne End'" oder "Die Deutschen machen mich kaputt" in die Landschaft – in den Mund legen könnte man sie Opfern der Weltkriegsbomben über Berlin oder an den Rand der Gesellschaft gedrängten Migranten. Nur zwei mögliche Lesarten der kellerliterarischen Einlassungen einer Platte, die auf ihrem Weg durch zivilisatorische Trümmer an mit Getöse einstürzenden Neubauten, Post-Punk-Brachen und croonigen Scott-Walker-Dramen vorbeiwankt und nur gelegentlich Ruhe findet.
Zum Beispiel in der ausgedehnten, von Streichern gesättigten Elegie "New York II", wo das lyrische Ich mit einem Pfeifen auf den Lippen durch den Big Apple streift, oder im provinziell beheimateten "Bargfeld", sowohl Verweis auf die Residenz des Dichters Arno Schmidt als auch feinsinnig tapsendes Piano-Hörbild, während der Krieg nur von fern widerhallt. Aber der Frieden währt nicht lange: "Der Gräber" schleicht sich auf leisen Sohlen an, ehe er zu immer größerem orchestralem Krawall menschliche Verfehlungen unterpflügt und "Riskantes Manöver" erstmals die Theatralik der besten Momente von Max Riegers Projekt All Diese Gewalt erreicht. Und dröhnt aus einer bröckelnden Clubruine mit "Unfall" ein ähnlich Dub-infizierter Elektro-Groover wie "Die Furcht", den Messer 2019 lediglich auf eine Single-B-Seite gepackt hatten, scheint schon so gut wie alles verloren.
Dabei stammt der stärkste Song in dieser mal rohen, mal filigranen Revue gar nicht von Otremba selbst. "Smog in Frankfurt" wird im Duett mit Stella Sommer zur Endstation Sehnsucht – ein düsterer, fuzzy Schlager, den Michael Holm 1971 über die Unmöglichkeit romantischen Zusammenseins aufgrund umweltschädlicher Dunstglocke schrieb, als der Satz "Lieber ein Haus im Grünen als einen Grünen im Haus" noch lange nicht spruchreif war. Wunderbar – und ein großes Durchatmen vor dem fantastisch manischen Twang-Albtraum "Nektar Nektar", der sich fast acht Minuten lang voranschleppt und schließlich von einem renitenten Saxofon planiert wird. Das Ende? Fast: Der letzte, fröhlich spielerische Vocal-Take gehört Otrembas kleiner Tochter und kündet von Neuanfang und, ja doch, Hoffnung. "Riskantes Manöver" wagt viel und begeistert. Uneingeschränkt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Im Pelzmantel, Cretin
- Der Gräber
- Smog in Frankfurt
- Nektar Nektar
Tracklist
- Opening night
- Im Pelzmantel, Cretin
- Bargfeld
- Der Gräber
- New York II
- Fremdes Gebäude
- Übergang
- Smog in Frankfurt
- Unfall
- Nektar Nektar
- Schön dort, und still
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VelvetCell
2023-08-18 12:22:00
War schon mal jemand auf einem Konzert von Otremba?
TheSayyadina
2023-04-18 21:10:17
H.R. Kunze hatte ja im "Und dann kam Punk"-Podcast tatsächlich dasselbe Urteil über Tocotronic. Ist auch nachvollziehbar; allerdings find ich da bis zum "Es ist egal, aber"-Album alles gut. Naja, kann man, wie Kunze, auch anders sehen...
nörtz
2023-04-18 21:06:32
Dann hör die lieber nicht Tocotronic an. :D
TheSayyadina
2023-04-18 21:03:15
Musik und Lyrik nehmen sich sowohl selbst als auch in ihren wechselseitigen Bezügen zu ernst und setzen sich selbst unter hohen Kunstverdacht. So etwas kann manchmal gutgehen, hier ist es aber eher manieriert. Man kann das selbstverständlich anders sehen. Peace.
nörtz
2023-04-18 20:58:10
Wie kommst du auf eine 2-3/10?
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- Hendrik Otremba - Riskantes Manöver (12 Beiträge / Letzter am 18.08.2023 - 12:22 Uhr)