
Liturgy - 93696
Thrill Jockey / IndigoVÖ: 24.03.2023
Radikale Routine
Liturgy können niemanden mehr schocken. Vorbei sind die Zeiten, in denen Genres zerhäckselnde Alben und Manifeste über "transzendentalen Black Metal" Musik-Nerd-Communities spalteten, sich Hipster-Verehrung wie Verachtung von der Trve-Metal-Fraktion gleichermaßen abholten. "93696", die sechste Platte der Band um Chef-Exzentrikerin Haela Ravenna Hunt-Hendrix, ist als Doppelalbum-Drama in vier Akten konzipiert, verweist im Titel auf eine numerische Repräsentation des christlichen Himmels und enthält in Presse-Info und Tracklist wieder eine Handvoll Begriffe, die man erst einmal auf Wikipedia nachschlagen muss. Der nach zweiminütiger A-cappella-Akrobatik einsetzende Opener "Djennaration" verschmilzt Hochgeschwindigkeits-Geknüppel mit Orchester-Pomp, Glockenspiel mit rhythmisch vertracktem Geriffe, Engelschöre mit dämonischen Schmerzensschreien, und der Trap-Break darf natürlich auch nicht fehlen. Das ist nicht weniger als großartig und unheimlich mitreißend, doch sowohl in dieser totalen stilistischen Durchdringung als auch im mythologisch-verkopften Überbau hat die Routine die Radikalität längst überholt. Liturgy haben sich in ihrer eigenen Art eines chaotischen Wohlklangs eingenistet.
Sofern sich das W-Wort überhaupt anbietet, wenn etwa in "Caela" Drums und Gitarren als weißes Rauschen durchs Haus fegen, ehe sich letztere nach sludgiger Rekalibrierung den Keller vornehmen – doch selbst hier spielt im Intro ein Banjo-ähnliches Saiteninstrument mit, als würde es ohne jeden Zweifel zum Repertoire einer solchen Dreckschleuder gehören. Hunt-Hendrix betont im Promo-Text die weitgehende Live-Aufnahme und den "Punk meets Classical"-Ansatz der Platte, auf der die klassischen, opernhaften und roh holzenden Elemente tatsächlich mehr Raum einnehmen als deren digitale Umstülpung. Bei "Ananon" mit seinem mehrstimmigen Mittelalter-Gesang meint man gar kurz, auf einem Richard-Dawson-Album gelandet zu sein, doch der Komplettabriss lässt nicht lange auf sich warten. Hunt-Hendrix selbst bleibt derweil fast konstant im unmenschlichen Kreisch-Modus – einzig der post-rockige Stratosphärenritt "Haelegen II" bringt ihren gelangweilten Singsang zurück, der das erste Mal auf "The ark work" seinen Teil dazu beitrug, die Band im Grunde nur lieben oder hassen zu können. "93696" hält die Intensität auf maximalem Anschlag, weswegen die auf Zithern oder Okarinas basierenden Interludes als Verschnaufer gelegen kommen – solange nicht wie im Mittelteil drei der Dinger hintereinander laufen.
Der Grund dafür bleibt diffus, was für das konzeptionelle Fundament im Gesamten gilt. Wie immer bei Liturgy spielt dieser Umstand jedoch keine Rolle, da man die Bezüge zu Eschatologie und Aleister Crowleys Thelema-Religion sowieso nicht verständlich aus Hunt-Hendrix' Vocals heraushört und die Musik einen für sich stehend schon genug fasziniert und überfordert – vor allem, wenn der Vierer im Schlussdrittel nicht nur einen, sondern gleich zwei 14-Minüter raushaut. Erst knüpft der Titeltrack gleißende Wolkenbrüche an schmutzige Sumpf-Tauchgänge bis zur doomig-monotonen Trance, dann prügelt und schreit "Antigone II" unter Chor-Aufsicht die purste Verzweiflung aus sich heraus. Liturgy mögen dem klassischen Black Metal so nah wie nie sein und zu wenige Überraschungen auffahren, um erschlagende 82 Minuten auf Meisterwerk-Niveau zu füllen, doch kreieren sie weiterhin absolut einzigartige und eindrucksvolle Hörerfahrungen. Trotz all der Reibung zu Karrierebeginn zieht Hunt-Hendrix unbeirrt ihr eigenes Ding durch und brennt damit länger als das zwischen Hype und Anti-Hype entfachte Diskursfeuer. Am Ende gewinnt eben immer die Kunst.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Djennaration
- Caela
- Haelegen II
- 93696
Tracklist
- Daily bread
- Djennaration
- Caela
- Angel of sovereignty
- Haelegen II
- Before I knew the truth
- Angel of hierarchy
- Red crown II
- Angel of emancipation
- Ananon
- 93696
- Haelegen II (Reprise)
- Angel of individuation
- Antigone II
- Immortal life II
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Armin
2023-03-15 22:24:56- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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