Karies - Tagträume an der Schaummaschine I
This Charming Man / CargoVÖ: 10.03.2023
Kein Bestandteil sein
Was hat der Zahn der Zeit? Haha, genau. Ging ja schnell diesmal mit dem obligatorischen, unerträglich witzigen dentalen Verweis am Anfang jeder Rezension zu Karies. Und das passt ins Bild, denn auf ihrem vierten Album haben es die Stuttgarter in wenig mehr als einer halben Stunde noch eiliger als auf dem bereits hinreichend kurzen Vorgänger "Alice". Ebenfalls nicht von langer Dauer: der Job am Schlagzeug bei Karies, sodass auf "Tagträume an der Schaummaschine I" mit Paul Schwarz von Human Abfall nach Julian Knoth, Philipp Knoth und Kevin Kuhn inzwischen der vierte Drummer dort Platz nimmt. Nerven können die Schwaben trotzdem unverändert – zum Beispiel alle, die Genre-treueren Post-Punk wie von den Nachbarn um Max Rieger erwarten. Und wer argwöhnt, das Fragment "Maschine" könnte in eine elektronischere Richtung weisen, liegt nicht falsch.
Eine Richtung, die mitunter auch "Alice" einschlug und die inzwischen eher an die Münsteraner Kollegen Messer gemahnt – diese hatten Tracks wie "Die Furcht" und dem zusehends groovenden Longplayer "No future days" eine Dub-Ausgabe nachgeschoben. So griffige stilistische Verortungen hat "Tagträume an der Schaummaschine I" nicht zu bieten, dafür genug Bewegliches wie den Opener "Coming of age", der zu schnaufendem Bass die Synthies zwitschern lässt und auf dem Weg durch die Sozialisationsinstanzen mit den Worten "Die Welt kann uns nicht mehr verstehen" die Altvorderen aus der Hamburger Schule einsammelt. Spitzfindiger rifft es sich im flinken Tanzwurm "Secondigliano", als wollte er dem Camorra-Clan aus dem gleichnamigen Neapolitaner Stadtteil an den Karren fahren. Und auf einmal geht knorrige Schaumparty auch mit Rockmusik.
Was hier beinahe Seltenheitswert hat, denn die von Ad-Libs durchwobbelte Social-Distancing-Miniatur "Failed state of mind" oder das an unterkühltem Cold-Wave-Chic vorbeigetragene "Laguna seca" kassieren sowohl die Gitarren als auch die jugendliche Aufbruchsstimmung weitgehend wieder ein. Am finstersten wird es ausgerechnet bei "Im Morgenlicht": Sequenzen wummern, alles knarzt und schabt, und fragt Benjamin Schröter in ätherischem Tonfall "Hast Du Angst? / Liegst Du wach?", läuft es längst kalt den Rücken runter. Nach dem Aufstehen is' auch scheiße? Bestenfalls ein schwacher Trost. Auch "Willy" hüpft schon ganz hektisch zum federnden Beat eines mutierten Stücks Rockabilly – kommt aber am Ende ebenso wenig vom Fleck wie einst "Holly", die vermutlich immer noch alleine im Wald steht. Vereinzelung in schaurig schön.
Danach zieht sich "Tagträume an der Schaummaschine I" immer weiter zurück und brummelt zu repetitiven Rhythmusmustern vermehrt eigentbrötlerisch vor sich hin. Immerhin der gekippte Surf von "Karibik" verkündet beschwichtigend "I'm feeling fine", würgt seine Leads jedoch unvermittelt ab und gönnt ihnen keinerlei pittoreskes Verhallen. Im Closer "Nicht wir werden" ist endgültig nichts mehr vom Community-Gefühl des Auftakts zu finden: Der Titel wirkt wie eine Verweigerung jeglichen Miteinanders im Stile von Einstürzende Neubautens "Kein Bestandteil sein", bevor plötzliches Gepolter noch einmal betont, dass Schwarz nicht nur an den Drums, sondern neben Thomas Zehnle auch am Mischpult saß. Vielleicht kein Ravepunk für eine bessere Welt, aber das letzte dynamische Statement eines tollen Albums, das sicher auch eine römische Zwei vertragen könnte.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Coming of age
- Secondigliano
- Willy
- Nicht wir werden
Tracklist
- Coming of age
- Secondigliano
- Im Morgenlicht
- Laguna seca
- Failed state of mind
- Willy
- Tagträume an der Schaummaschine
- Karibik
- Don't you want to see you
- Nicht wir werden
Im Forum kommentieren
Pole
2023-12-13 08:03:55
Hoffe ich doch mal stark.
Und "Alice" ist von den drei ersten Album m. M. n. das beste.
MopedTobias (Marvin)
2023-12-12 15:30:45
Nach den ersten beiden für mich immer noch grandiosen Alben hat meine Faszination für die Band so rapide nachgelassen, dass ich die Existenz von diesem hier total vergessen habe, obwohl ich sogar Thomas' Text dazu redigierte. Jetzt mal nachgeholt und es gefällt mir wieder gut, auch wenn es nicht an besagtes Doppel heranreicht. Ist es sicher, dass da noch ein zweiter Teil kommt? Bei Spotify fehlt ja die I im Titel.
Pole
2023-03-09 07:50:39
CD bestellt. Album ist sicher wie alle drei anderen super.
Armin
2023-03-08 21:12:59- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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