Hundred Reasons - Glorious sunset
SoVÖ: 24.02.2023
Plötzlich erwachsen
Dass Bands sich jahre- oder gar jahrzehntelang einfrieren lassen und dann auf einmal wieder am Start sind, als sei nix gewesen, hat oft ein Geschmäckle. Haben solche Wiederkünfte zwar oft mit der Verwaltung des eigenen Erbes und dringend nötigen Finanzspritzen zu tun, gibt es aber auch Künstler*innen, denen man ehrenvollere Beweggründe abkauft: Vielleicht sind die alten Freundschaften wieder aufgelebt, vielleicht wurde aus Nostalgie und gemeinsamen Erinnerungen schließlich mehr, vielleicht lodert sogar das einstige Feuer wieder. Wer weiß das schon genau? Hundred Reasons zumindest, die am amerikanischsten klingende aller britischen Post-Hardcore- und Emo-Bands, veröffentlichen "Glorious sunset" fünfzehneinhalb Jahre nach ihrem letzten Album Quick the word sharp the action". Sellout? Dad-Rock? Nein, besser: Die Musik sorgt für ein breites Grinsen. Will man doch bei jedem Song auf einem Berg stehen und mit ausgebreiteten Armen aus vollsten Lungen brüllen, wie schön dieser Sonnenuntergang wirklich ist, damit alle es wissen. "Es musste einfach passieren", verkündet die Band – im Durchschnitt nun auch schon um die vierzig und teils Familienväter. Man glaubt ihnen sofort.
Meterdicke Gitarrenwände und vereinzelte zarte Soundspielereien wie im sphärischen "Insultiment" oder zu Beginn des Titeltracks, mehr braucht das Quartett meist nicht, um mit großen Pinselstrichen noch viel größere Gefühle zu malen. Dass seine Art von Musik brutal aus der Zeit gefallen ist: geschenkt. Angestaubt klingt keiner der zehn Songs auf "Glorious sunset", stattdessen immer energetisch und mitreißend, was auch am ewig jugendlichen Organ von Colin Doran liegt, der dieselbe Medizin zu nehmen scheint wie Walter Schreifels. In den Sinn kommt einem unweigerlich "Bleed American" von Jimmy Eat World, das ja auch zweifelsfrei eine Art Blaupause für das Genre in den 2000ern darstellt, derart dicht an dicht basteln Hundred Reasons ihre Hooks, Hymnen und Hits hintereinander. Und das meist ohne den Härtegrad zu erreichen, der ihre früheren Werke auszeichnet – eine bewusste Entscheidung. Denn gediegenere Kompositionen wie "Replicate" überzeugen gerade durch den entschleunigten Ansatz, und das gänzlich kitschfrei trotz Piano, Streichern und ausladender Emo-Geste. Ein Song wie sommerliches Biertrinken am Fluss.
Die Band spricht im NME-Interview vom natürlichen Entstehungsprozess des Albums, von der nur kurzlebigen und heute verwaisten Emo-Szene in Großbritannien und der fehlenden Entschlossenheit, ob und wie es weitergehen soll. Selbst wenn die Reunion schlussendlich nur von limitierter Dauer sein sollte, hat sie sich allein für "Glorious sunset" gelohnt. Ob eher brachiale Riffs in "United by fate"-Manier wie in "It suits you" oder kleine Heartland-Reminiszenzen wie im passend betitelten "The old school way" – die letzten zwanzig Jahre scheinen zumindest in musikalischer Hinsicht spurlos an Hundred Reasons vorbeigegangen zu sein. Und falls in dieser Zeit doch unangenehme Dinge vorgefallen waren, sind sie nun vergeben und vergessen. So heißt es zwischendurch zwar noch: "So many times I've spent lost in emotion / I lose the will to live." Aber gerade dann ist "Glorious sunset" das Antidot für die Midlife-Crisis und macht mit seiner sonnig-warmen Produktion und den meist aufmunternden Worten schlichtweg happy. Spätestens, wenn "Wave form", das zwar aufgestaute Ressentiments thematisiert, aber trotzdem in euphorische Melodieseligkeit kleidet, am Ende seine Klimax voll aufdreht, nehmen die guten Gefühle Überhand und wischen die letzten Reste von "anger and sadness" einfach fort: "Tell me you're sorry, tell me you're sorry out loud!" Wer hier nix mehr fühlt, ist dann doch schon längst verbittert.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Glorious sunset
- Replicate
- Insultiment
- Wave form
Tracklist
- Glorious sunset
- New glasses
- It suits you
- Replicate
- Done
- Right there with you
- Insultiment
- So so soon
- The old school way
- Wave form
Im Forum kommentieren
didz
2023-03-28 11:00:38
ja, zusammen mit der neuen paramore das meistgehörte album bis jetzt dieses jahr :-)
jo
2023-03-28 10:40:11
Macht immer noch viel Spaß, das Album :).
didz
2023-02-28 23:33:18
@kamm fehlt da am anfang, aber man weiss ja wer gemeint is ;-)
didz
2023-02-28 23:30:43
hui, hm, ok...ja^^ :-D
du erinnerst mich an mich von vor 20 jahren, kann mir vorstellen du würdest auch sagen das du dich mit obigem text noch kurz gefasst hast ;-)
also, erstmal danke. auch wenn ich nicht zustimme, es nich so fühle wie du, weiss ich es zu schätzen wenn sich jemand zeit nimmt und sich die mühe macht sich zu erklären.
ohne jetzt zu sehr ins detail zu gehen, was nach dem lesen hängen bleibt bzw mein erster gedanke war/is, is verwunderung.
verwunderung über dieses völlige hinwegwischen von etwas, was aus dem nichts von anderen erschaffen wurde, fast zu dem punkt wo ihm fast schon die daseinsberechtigung abgesprochen wird, nur weil etwas nicht 'neu' genug is, was einfach sehr schwer zu errichen is.
das fühlt sich für mich an wie 'impossible standards'.
ich hab versucht und nich geschafft es mir vorzustellen, wie das is/sein könnte wenn ich ein neues album höre und einfach nichts spüre, es mich nicht reizt. das is mir in deiner beschreibung einfach mindestens zwei stufen zu radikal :-) das kann und möchte ich nicht mitgehen.
hier bei jedem hören gleichzeitig die sinn-frage zu stellen, erscheint mir anstrengend und kontraproduktiv. das is wie gesagt ein mindset den ich überhaupt nich nachvollziehen kann oder möchte.
vieles was du schreibst erscheint mir auch widersprüchlich, aber das bleibt wohl nich aus. auf der einen seite hast du diese erwartungen, hörst dann aber sachen wie 'the used'. ich gebe dir recht das das debut sehr toll is, aber was revolutionäres is das ja nun wirklich nich. das is ein mix aus punk/hardcore/rock der auch schon zum zeitpunkt vom release nix anders/neu/radikal und von seiner struktur her recht gewöhnlich und aktbacken war.
wieso sticht das hervor und ist memorabel, aber ein ebenso einfach gestrickter song wie 'glorious sunset' mit eingängigem refrain bleibt schon 1 tag später nicht mehr bei dir hängen?
zu den filmen und büchern...
ich verstehe nich wirklich wo jetzt...hm. ich widerspreche dir nicht. klar geht es um den inhalt. alles was ich sagen wollte ist, genau wie in anderen kunstformen hat sich auch in der musik ein, mir fällt kein gutes wort ein, sagen wir format(ja auch wenn es negativ konnutiert ist) etabliert. diese aussage is erstmal völlig wertfrei. das sind ja nur rahmenbedingungen, das worin etwas präsentiert wird. was wichtig is, is was drin is. ja. stimmt.
deine postings klingen aber als möchtest und suchst du in erster linie sachen die aus diesen korsetts ausbrechen.
ein weiterer gefühlter widerspruch, weil du aber jetzt schreibst es geht um den inhalt...das is die frage, das is das was ich meinte.
isses innerhalb dieser rahmenbedingungen wirklich möglich, was wirklich 'neues' zu erschaffen? schwer, finde ich. auch dein beispiel song findet in einem bekannten, altbackenen rahmen statt. das is jetzt nix revolutionäres.
das is ja die kunst in der kunst, etwas von bedeutung zu schaffen, und es so zu präsentieren das es für andere konsumierbar bleibt, ohne aber an anspruch einzubüßen.
dann bleibt für mich die frage, is dieses ziel von etwas höherem/besserem nur erreichbar wenn man diese bekannten formate/strukturen der unterschiedlichen kunstformen in frage stellt und durchbricht?
für mich nein, womit wir uns dann am ende irgendwie im kreis drehen. weil wir uns zwar einig sind das es um den inhalt geht, aber wir trotzdem einfach zu unterschiedliche erwartungshaltungen an diesen zu haben scheinen.
jo
2023-02-28 23:24:08
Nee, ich habe auch gar kein Problem damit, dass man halt einfach nicht auf einem Nenner kommt. Das sollte man aushalten können. :)
Ich denke, das bekommen wir alle hin ;) (also zumindest "wir drei hier" im Speziellen).
Tatsächlich würde ich die Argumente bezüglich Gleichartigkeiten in der Kultur, die ihr als "pro" oder "ist halt so" anführt, als "contra" und "genau so nicht" anführen. :D
Nur noch mal kurz zu meinem Standpunkt: Das Einzige, was ich als "ist halt so" anführe, ist das Subjektive an der Sache. Was du als "klingt wie immer" anführst bei dieser Band, kann ich ja ganz locker als "klingt für mich nach nichts Neuem" bei anderen Bands, bei denen du das nicht so hörst, anführen.
Ich kann halt nur sagen, wie es bei mir ist. Ich bin auf der Suche nach Sachen, die sich nicht so anhören wie schon bekannt.
Daher: Warum sollte mir das anders gehen? Ich brauche auch keine x Kopien eines bestimmten Songs - ich höre sie nur vielleicht in manchen Songs nicht so wie du (und andersherum).
Weil du den Carly-Cosgrove-Song genannt hast: Den kenne ich auch, aber ich kann da für mich wiederum nichts wirklich komplett "Frisches und Eigenständiges" hören. Vielmehr nervt mich, dass es zu viele Einschübe gibt, die letztlich zu nicht viel führen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Rhythmusvariationen und Songs, die zwischendurch in unterschiedliche Richtungen gehen, per se nicht mag. Es passt für mich nur in diesem Fall nicht zusammen. Es macht ihn für mich beliebig, da eher nach Motto "ach komm', wir werfen das mal noch rein, dann haben wir da noch was total Überraschendes drin" konstruiert. Zu sehr konstruiert eben und dadurch, für mich, nicht organisch. So, wie das - mit anderen Mitteln und aus anderen Gründen - für dich bei den Hundred-Reasons-Songs der Fall ist.
Das heißt nicht, dass wir nicht durchaus auch ne Schnittmenge finden (siehe Songs vom ersten The-Used-Album :D ), aber bei den beiden Beispielen passt es aus unterschiedlichen Gründen jeweils für uns nicht. Ich finde das auch nicht weiter schlimm, aber das ist und bleibt für mich eben letztlich höchst subjektiv.
Ansonsten stimme ich ja vielem in deinem Beitrag zu, aber diese Punkte müssen wir dennoch generell klar auseinanderhalten ;).
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