Scherben - Domestiziert
Kidnap / CargoVÖ: 25.11.2022
Kamm geschwollen
Einmal frischer Deutschpunk gefällig? Hier entlang, bitte! Ja, okay, Plattentests.de befand sich Ende November 2022 womöglich in den Anfängen des Winterschlafs oder ließ sich in halbwachem Zustand aus dem gläsernen Zuhause in die böse Glühweinschleife zerren. Oder war es die übliche Vorweihnachtshektik? Nur so können wir uns erklären, warum wir dieses schmucke Brett der Band Scherben erst mit ein wenig Verzögerung nachliefern. Aber hey, zu Neujahr sich die Lauscher freipusten zu lassen, kann sicherlich auch nicht schaden. "Domestiziert" ist der zweite Release der unscheinbaren Combo aus Krefeld. Und wenn man eines mit der Stadt am Niederrhein nicht verbindet, dann ist es womöglich Glamour und Glanz. Passenderweise liefern Scherben daher schnörkellosen, druckvoll produzierten Punkrock mit fetter Hardcore-Kante und unverblümten Texten, die von einem gehörig geschwollenen Kamm zeugen.
"Domestiziert" bringt elf Songs in deutlich weniger als einer halben Stunde unter und bereits die ersten beiden Stücke zeigen, dass Scherben sowohl die spitzhackige Kante, hier sei der berstende, wütende Opener "Ein Glas Pisse" genannt, als auch den riffverliebten, melodischen Hit Marke "Gottseidank Krieg" im Repertoire haben. Thematisch hält das Quintett eher nichts von Scheuklappen oder falscher Vorsicht. Neben klassischen Punk-Themen dissen die Krefelder mithilfe von Hardcore-Brechern wie "Solicocktailstand" moderne Großstadt-Irrungen und -Wirrungen, ranten im Quasi-Titelsong "Hund" zu scharfen Riffs und polternden Drums und im hübsch angepissten "Kündigung" den offenbar mit der Babymilch inhalierten kapitalistischen Leistungsgedanken, am Mikro tatkräftig unterstützt von Waumiau-Vokalistin Anna. Auch vor der linken Szene macht die Band nicht Halt, im Gegenteil: "Ein Glas Pisse" rechnet gnadenlos mit der zwischen Mief und Wohlstand wabernden Blase ab und dabei auch mit einem Habitus, der von Intoleranz und Engstirnigkeit geprägt ist oder immer mehr auf Trends schielt.
Dass endlich mal jemand die Rolle von zwielichtigen Polit-Figuren wie einem gewissen Hans-Georg Maaßen thematisiert, die jahrelang wichtigste Ämter der Demokratie bekleiden und in der (vermeintlichen) Mitte der Gesellschaft ihrer Fremdenfeindlichkeit freien Lauf lassen dürfen, ohne dass dies mehr als ein Achselzucken auslösen würde, wurde höchste Zeit. Dabei stinkt den Musikern vor allem die öffentliche Bagatellisierung der rechtsextremen Morde und Angriffe: "Der Erinnerungskultur-Weltmeister hat sich von jeder Mitschuld befreit / Keine Hetzjagd / Keine Nazibullen / Und sowieso: alles nur Einzeltäter, seit 1933!" Auch außer Atem? Macht nichts, denn nach gut 23 Minuten ist dann auch alles gesagt. Und eine Sekunde später hat man im Rausch längst wieder auf Play gedrückt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Ein Glas Pisse
- Gottseidank Krieg
- Kündigung
- Ich möchte HG Maaßen die Brille von der Nase schlagen
Tracklist
- Ein Glas Pisse
- Gottseidank Krieg
- Exitus
- Kündigung
- Sachbeschädigung
- Solicocktail
- Hund
- Ich möchte HG Maaßen die Brille von der Nase schlagen
- Innenstadtfront²
- Nachtfeind
- Atom//Atom//Atom
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Rochen
2023-01-20 15:17:47
Ein echtes Highlight, was deutschen Punkrock in der letzten Zeit betrifft.
Z4
2023-01-11 21:32:10
Cool
Armin
2023-01-11 20:17:07- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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