Niños Del Cerro - Suave pendiente

Sello Fisura
VÖ: 18.02.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Möglichkeit einer Insel

Der großartige chilenische Autor Roberto Bolaño charakterisierte die geographische Beschaffenheit seines Heimatlandes, das er nach dem grausamen Putsch gegen Allende 1973 nur mehr aus dem Exil betrachten konnte, einst recht eigenwillig. Eine Insel sei Chile, im Norden begrenzt von der unwirtlichen Atacama-Wüste, im Osten von den Anden, im Süden von der wetterumtosten Wildnis Feuerlands, während im Westen der größte Ozean des Planeten brandet. Immer wieder präsentierte sich die Geschichte des Landes als Konzentration von Gegensätzen, landschaftlichen, klimatischen, politischen, aber auch der Vermischung indigener und europäischer Kulturen. Dass mit Gabriel Boric 2022 erstmals seit Allende wieder ein Linker das Präsidentenamt bekleidet, artikuliert auch ein verändertes gesellschaftliches Klima, einen utopischen Geist in der Folge der Massenproteste der vergangenen drei Jahre. Und war ein solcher nicht schon immer auch Nährboden kreativer Rockmusik? Wenn Sprachbarriere und "esta enorme distancia" die lateinamerikanische Rockmusik im globalen Norden seit jeher ein wenig unter dem Radar fliegen lassen, dann ist das ohnehin ein gewaltiges Versäumnis. Jüngster Beleg: das dritte Album von Niños Del Cerro aus Santiago, eine erstaunliche Reise durch Shoegaze, Dream-Pop, Post-Rock und Folk, die über fast 70 Minuten das bislang ambitionierteste Werk des Quintetts bedeutet. Zugleich dürfte es sein zugänglichstes sein.

Dabei spielt sich "Suave pendiente" mit traumwandlerischer Sicherheit den titelstiftenden sanften Hang herauf, besticht von Anfang an mit atmosphärischer Diche und feinen Texturen. Während der psychedelisch angehauchte Indie-Pop von "Povidona" noch im Sonnenlicht glänzt – "Nada dura para siempre / En la lucidez se aprende" ("Nichts währt für immer / In der Klarheit lernt man"), so formuliert der glockenhelle Tenor von Sänger Simón Campusano den poetisch verrätselten Selbstauftrag – erweisen sich die à la Ride filigran verhallenden Gitarren und subtilen Gesangsmelodien des anschließenden "Tentempié" als ebenso klares Highlight. Selten klang Shoegaze so ruhig, in seinen besten Momenten ähnlich zärtlich. Direkt fällt auf, dass "Suave pendiente" sanfter anhebt als der ebenfalls sehr starke, etwas rauer und noisiger geratene Vorgänger "Lance". "Miel" entrückt die Stimmung weiter, erkundet einen traurigen Garten Eden im Schwellenraum von Idylle und Melancholie. Ohnehin sind Campusanos Lyrics von einer eindringlichen Symbolik geleitet, die immer wieder assoziative Türen öffnet, zugleich als nachdenkliche Innenschau und in seiner sozialen Dimension funktioniert: "Nuestro porvenir un hueso roto", heißt es da, "unsere Zukunft ein gebrochener Knochen". Doch wartet ein solcher nicht auch auf seine Heilung?

In seiner ersten Hälfte verschreibt sich "Suave pendiente" ganz den zauberhaften Melodien und kommt entsprechend eingängig daher. "Sulamita" ist ein waschechter Ohrwurm, ein sommerlich-leichtes und zugleich mythologisch verschachteltes Liebeslied; "Mi modesta ceguera personal" klingt trotz euphorischer Glocken im Refrain nach schwebendem Psych-Pop aus den 60er-Jahren. Dezent werden Elemente andiner Folklore und Field Recordings eingestreut ("Tamarugal"). Erst allmählich erweitern Niños Del Cerro das Repertoire, lassen ihre Songs peu à peu ausfransen, bevor sich gegen Ende eine post-rockige Weite über das Album legt, gleichsam als Reise zu den Rändern. Im Herz des Albums wartet das Trio aus "Frío frío", einer musikalischen Streicheleinheit aus zurückhaltenden Gesangsharmonien und weichen Akustikgitarren, "Esta enorme distancia" und "Daniel", mit knapp acht Minuten das längste Kapitel auf "Suave pendiente". Während ersteres mit cleaner Produktion, wuchtigem Riff und in der Coda tänzelnden Bläsern gleich beim ersten Hördurchgang hängen bleibt, flirren durch "Daniel" aufgewühlte Gitarren und eine unruhige Laut-Leise-Dynamik, die sich bald in ein durchdringendes Dröhnen steigert. Schönheit im Moment ihrer Gefährdung zu zeigen: ein wesentliches Moment dieser fragilen Kompositionen.

Nirgendwo wird das deutlicher als in der abschließenden Pianoballade "Noches oscuras", die unverhofft von einschüchternden Noise-Wellen erdrückt wird, als man es sich gerade in der ruhigen Kontemplation bequem machen wollte. Denn auch wenn im Schlussteil des Albums mit "Mamire" die vielleicht quirligste, beinahe punkige Einlage wartet, erinnert der Eindruck hier mitunter eher an Sigur Rós. Der Wunsch nach Entgrenzung und Aufbruch prägt die Lap-Steel von "Vita contemplativa", den resignativen Trost der ineinandergeschlungenen Gitarrenfiguren von "El dulce en la piel de tu nombre" oder den ozeanisch rauschenden Schluss von "Le entrego mi alma al vacío como una ofrenda de amor", das die vielleicht erhabenste Melodie des Albums entwickelt. 15 Lieder aus einer Zeit des Eingesperrt-Seins seien auf "Suave pendiente" versammelt, gibt die Band zu Protokoll – und wie so vieles ihrer Ästhetik lässt diese Aussage durchaus Interpretationsspielraum zu. In jedem Fall dürfen sie nun Gehör finden: auf Inseln, auf denen ihre Sensibilität auf Gegenliebe stößt.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Tentempié
  • Sulamita
  • Esta enorme distancia
  • Daniel
  • Le entrego mi alma al vacío como una ofrenda de amor

Tracklist

  1. Povidona
  2. Tentempié
  3. Miel
  4. Mi modesta ceguera personal
  5. Sulamita
  6. Tamarugal
  7. Frío frío
  8. Esta enorme distancia
  9. Daniel
  10. Vía contemplativa
  11. El dulce en la piel de tu nombre
  12. Mamire
  13. La sombra quieta
  14. Le entrego mi alma al vacío como una ofrenda de amor
  15. Noche oscura
Gesamtspielzeit: 68:31 min

Im Forum kommentieren

Pivo

2023-01-08 21:35:29

Ob jetzt spanisch oder isländisch ist Wurst. Hier ist das neue Album von sigur ros. Etwas ruhiger als der unmittelbare Vorgänger aber irgendwo zwischen takk und vid. So hätte in jedem Fall das neue Album von sigur ros klingen dürfen, wenn denn eines erschienen wäre und alles wäre gut gewesen.

Pivo

2023-01-05 10:42:32

Das könnte tatsächlich den Namen "vergessene Perle" zu Recht bekommen.

Mich hat auch der Vergleich mit einigen Bands die ich mag, neugierig gemacht und das erste schnelle Probehören hat die Neugier noch etwas verstärkt. Werde am verlängerten Wochenende einmal komplett und in Ruhe hören und dann wird sich zeigen wie viel "Perle" wirklich drinsteckt.

maxlivno

2023-01-04 13:07:28

sehr schön, dass es nachträglich eine Rezension erhielt, auch weil es musikalisch vielen hier aus dem Forum gefallen könnte. Das im Text erwähnte "Lance" finde ich nochmal eine Ecke stärker, weil es durch die kürzere Tracklist keine Schwachstellen hat. Schön geschriebene Rezension auch

peter73

2023-01-04 09:28:08


"eine erstaunliche Reise durch Shoegaze, Dream-Pop, Post-Rock und Folk.."

hm, könnte durchaus interessant sein.
wird heute abend angetestet!

Armin

2023-01-03 20:37:42- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

"Vergessene Perle 2022"!

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