Grim104 - Imperium

Recycled Earth
VÖ: 01.07.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Schmerzen im Herzen

Wer möchte gern einmal von Hitler gestreichelt werden? Glücklicherweise schmort dieser bekanntlich längst im hinterletzten Eck der Hölle. Und trotzdem ist der böse Mann mit dem kleinen Bart noch gar nicht tot. Und das hat sogar eine gute Seite. Seine Verbrechen und die unserer deutschen Ahnen dürfen schlicht und ergreifend niemals vergessen werden. Aber Imperative bewirken leider bisweilen genau das Gegenteil dessen, was sie beabsichigen. Wird man ja wohl noch sagen dürfen und so. "Mir steckt das Land in den Knochen", rappt Grim104 im absoluten Über-Track "Komm und sieh" von seinem Drittling "Imperium". Statt den Zeigefinger zu erheben, vergleicht er seine herkunftstbedingte Schwermut mit schauderlichen Berührungen durch den "Führer": "Spür' seine Hände in meinen Haaren / Kalte Finger, sie wandern mein Gesicht hinunter." Das geht ins Mark.

Grim104s Stimme klingt schon immer ein bisschen so, als hätte er gerade eine saftige Backpfeife kassiert. Wenn die Schelle ordentlich klingelt, sodass Tränen in die Augen steigen. Aber auf "Imperium" ist die Tragik spürbar wie nie, ist Grim104 letztlich auch so durchdacht wie noch nie unterwegs. Seine Performance changiert zwischen spürbarem Schmerz und zähflüssigem, aber nicht klebrigem Trotzdem-Vortrag. So bereits im eröffnenden Selbstfindungs-Track "Abrakadabra", in welchem der Rapper seinen Werdegang nachzeichnet, um letztlich doch nur festzustellen: "Ich kenn' mich doch selbst kaum." "Bam Margera" beschäftigt sich eingehender mit seinem Coming-of-Age in den 90er-Jahren, kontrastiert die Erzählung mit Geschichten aus seinem heutigen Leben als Mittdreißiger und hofft auf Unsterblichkeit. Wenn diese Jackass-Trottel ihre kranken Stunts überlebt haben, warum sollte das ewige Leben ein Traum bleiben? In "Honda Legend '99" unternimmt Grim104 – eingerahmt von einer wahnsinnig eingängigen Hook – einen weiteren Versuch, das Unvermeidbare wegzurappen.

Spätestens im Titeltrack "Imperium" muss er jedoch erkennen, dass sein Scheitern vorprogrammiert ist: "Errichtet auf Sand / Wie Rom, wie Byzanz / Alles vergeht", heißt es da zwischen quietschend gecutteten Samples. Einfach einmal nichts spüren zu müssen, könnte die Lösung für den ganzen Mist sein. In "Numb" übernimmt LGoony den Kehrvers: "Ich krieg keine Luft, ich kann nicht mehr laufen / Ich brauch eine Pause, lass mich kurz chillen." Hilft aber alles nichts: "Für jedes Problem kommt ein weiteres hinzu." Grim104 spricht von seinen Ängsten und erwähnt, wie an vielen weiteren Stellen auf der Platte, seine Therapeutin. Diese spielt auch in "Das Versprechen" eine Rolle, wenn er von der belastenden Abgestumpftheit in Berlin berichtet. Er beobachtet eine scheiternde Beziehung voller Gewalt und schildert, wie er sich selbst gegenüber das Wegschauen rechtfertigt. Schließlich gibt er seiner Nachbarin sein Wort, sie nicht zu verraten, wenn sie ihren Peiniger tötet. Erneut schafft es der Rapper, seine Erzählung so greifbar zu machen, dass sie beim Zuhören im Herzen schmerzt.

Am Ende naht zu souligen Piano- und Gitarrenklängen der "Sonnenuntergang", wobei Grim104 darin vor allem sein eigenes Verglühen vorhersieht. Aus dem "Wer bin ich?" zu Beginn des Albums wird hier das ultimativ generalisierte "Warum?". "Imperium" liefert tatsächlich kaum Antworten, stellt jedoch die richtigen, ja, die großen Fragen. Nur so funktioniert Reflexion, und Grim104 macht hier nichts anderes: persönlich, klug und nachempfindbar, hier und da auch witzig – oder wie es im Closer heißt: "links und lustig" –, aber nie kalauerhaft. Angesichts der kurzen Laufzeit von nur knapp 30 Minuten ist es kaum zu glauben, wie verdichtet der Rapper so viel Schlauheit auffahren kann. Die an Irrsinn grenzende Wut aus früheren Zeiten scheint er abgelegt zu haben. Sicherlich geschah das nicht absichtlich, sondern vielmehr durch prägende Erlebnisse. Auf "Imperium" lässt Moritz Anton Wilken uns alle daran teilhaben und schließt dieses in seiner Nähe zulassenden Art fast briefartige Album mit der Grußformel "Liebe Grüße, Euer Grimmi".

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Honda Legend '99
  • Numb (feat. LGoony)
  • Komm und sieh
  • Das Versprechen

Tracklist

  1. Abrakadabra
  2. Honda Legend '99
  3. Bam Margera
  4. Numb (feat. LGoony)
  5. Voo Store
  6. Ü30 Männer im Club (feat. Kaiii)
  7. Komm und sieh
  8. Das Versprechen
  9. Imperium
  10. Sonnenuntergang
Gesamtspielzeit: 30:07 min

Im Forum kommentieren

kiste

2023-12-16 11:17:23

Stadfuchs. Sehr schönes Video. Platte ist auch super. Finde das Radio Grim Konzept echt lustig, seltsame Pop Beats mit grimmigen Rap!

S.v.K.

2023-12-12 12:17:00

Otto hat recht.

kiste

2023-12-12 11:47:36

Vielleicht kommt da noch eine Rezension, ist ja erst rausgekommen. Konnte leider noch nicht reinhören, werde erstmal die „Musikvideos“ dazu angucken.

Vraet

2023-12-09 17:25:47

Oh ja! Ich finds auch toll!

Otto Lenk

2023-12-09 13:16:21

Das neue Album 'Ende der Nacht' ist ebenso empfehlenswert. Mindestens 8/10

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