Lou Reed - Words & music, May 1965

Light In The Attic / Cargo
VÖ: 16.09.2022
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

The gift

Am 11. Mai 1965 verschickte Lewis Reed ein Paket an sich selbst. Weil er sich kein richtiges Copyright leisten konnte, datierte er auf diese Weise dessen Inhalt und wies sich als Urheber aus. Es sollte kein Zweifel daran bestehen, wer für "words and music" dieser Tapes verantwortlich war, die der damals beim Billiglabel Pickwick angestellte Songwriter eines Frühlingstages mit Akustikklampfe, Mundharmonika und einem aus Wales stammenden Freund in seinem New Yorker Zuhause aufnahm. 50 Jahre lang lag das Paket verschlossen im Büro des 2013 verstorbenen Reed, ehe es von seinen Archivaren gefunden, geöffnet, bestaunt und im Herbst 2022 unter Kuration seiner Witwe Laurie Anderson veröffentlicht wurde. "Words & music, May 1965" nun schlicht als verspäteten Beginn der obligatorischen Ausschlachtung einer toten Musiklegende abzutun, würde dem kaum messbaren Gewicht dieser Demos nicht gerecht werden. Schließlich hören wir hier nicht weniger als die ersten gemeinsamen Standortbestimmungen von Lou Reed und John Cale, die nur wenige Jahre später den Verlauf der alternativen Rockgeschichte so radikal prägen würden wie niemand vor oder nach ihnen.

Die Sammlung enthält unter anderem die frühesten bekannten Aufnahmen von drei der größten The-Velvet-Underground-Meisterwerke. "I'm waiting for the man" umrahmt das Album in gleich zwei Versionen. Beide erzählen die bekannte Drogenkauf-Geschichte mit folkiger Gemächlichkeit ohne jede subversive Attitüde, während Cale nach ungebrochener Harmonie strebt und den "white boy" als nervösen Briten mit starkem Akzent mimt. Auch "Pale blue eyes" ist auf das Skelett reduziert eine zurückhaltende Country-Ballade, die lyrisch noch weiter wachsen wird, aber bereits hier im Refrain mit mattem melodischen Glanz erstrahlt. Nur "Heroin" zeigt, wie weit Reed seiner Zeit damals schon voraus war. Er wechselt zwischen wundgeschrammelten Fingern und zartem Gezupfe, zwischen Doubletime-Ekstase und todesnaher Erschöpfung, artikuliert den Rausch der titelgebenden Droge so unmittelbar und eindringlich, dass es einem auch ohne Strom und Krach die Nackenhaare aufstellt.

Nicht, dass es die Mission des damals 23-Jährigen war, dem Mainstream den Krieg zu erklären. Im Gegenteil: In erster Instanz zeigt "Words & music, May 1965" diese Ikone des Außenseitertums als aufstrebenden Jungmusiker, der den Zeitgeist nicht überwerfen, sondern Teil von ihm sein wollte. Der einnehmende Geist Bob Dylans, der Ein-Mann-New-Wave des Folk-Revivals, schwebt über Songs wie "Walk alone", im bluesigen "Stockpile" oder "Buzz buzz buzz" mit seinem Chuck-Berry-Riff finden sich mehr als nur Spuren von Reeds Brotjob bei Pickwick. Dazu vermitteln viele der Demos ohnehin das Gefühl, dass überhaupt kein tieferer Sinn dahinterstand, als mit einem gleichsam dauerarmen und nicht nur erfolgshungrigen Leidensgenossen im höchstwahrscheinlich nicht nüchternen Zustand ein bisschen Quatsch aufzunehmen. Kein Track macht dies so deutlich wie das doo-wopige "Too late", das Reed ein paar holprige Shouts abringt, bevor Cale das Lachen nicht mehr zurückhalten kann und beide alles ziellos ausfransen lassen. Großen musikalischen Mehrwert bieten solche Spaß-Stücke nicht, interessant sind sie aber allemal.

Die Kinderlied-Parodie "Buttercup song" schlägt in eine ähnliche Kerbe, doch anderes meint Reed todernst. In "Men of good fortune" – das übrigens nichts mit dem gleichnamigen Song auf "Berlin" zu tun hat – nimmt er zum ersten, aber bekanntermaßen nicht zum letzten Mal in seiner Karriere eine weibliche Perspektive ein. Mit aufrichtiger Bitterkeit in der zitternden Stimme singt er von der Unmöglichkeit, einen passenden Lebenspartner zu finden. Und dann ist da noch "Wrap your troubles in dreams", das kurze Zeit später auf Nicos "Chelsea girl" einen offiziellen Platz finden sollte. In dieser Version übernimmt Cale den Lead-Gesang, schwebt wie ein Geist über die achtminütige Ödnis aus einem langsamen Klopf-Beat und der minimalistischen, texturgebenden Gitarrenmelodie. Die Faszination hinter einer Demo-Sammlung, die neue Facetten ihres in die Popkultur eingebrannten Erschaffers offenbart, kulminiert in diesem Stück, dem ersten Wink auf die erderschütternde Eigensinnigkeit von The Velvet Underground. Und es verfestigt sich die Erkenntnis, dass in verschlossenen Paketen auch noch andere Wunder warten können als liebestrunkene Naivlinge namens Waldo.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Men of good fortune - May 1965 demo
  • Heroin - May 1965 demo
  • Wrap your troubles in dreams - May 1965 demo

Tracklist

  1. I'm waiting for the man - May 1965 demo
  2. Men of good fortune - May 1965 demo
  3. Heroin - May 1965 demo
  4. Too late - May 1965 demo
  5. Buttercup song - May 1965 demo
  6. Walk alone - May 1965 demo
  7. Buzz buzz buzz - May 1965 demo
  8. Pale blue eyes - May 1965 demo
  9. Stockpile - May 1965 demo
  10. Wrap your troubles in dreams - May 1965 demo
  11. I'm waiting for the man - May 1965 alternate version
Gesamtspielzeit: 44:58 min

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Armin

2022-12-21 20:11:19- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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