Weyes Blood - And in the darkness, hearts aglow

Sub Pop / Cargo
VÖ: 18.11.2022
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Der Brunnen als Spiegel

Mit einem erstaunlichen Kontrast eröffnet "And in the darkness, hearts aglow": Ins luxuriöse Gewand eines vielschichtigen Arrangements, über dem ihre Stimme mit gewohnter Eleganz thront, faltet Natalie Mering Gefühle der Isolation, Einsamkeit und Verunsicherung. Zeitlose Streicherteppiche und beruhigende Gesangsharmonien bereiten den Grund, auf dem sie in klaren, einfachen Sätzen jene akuten Krisen reflektiert, die seit Erscheinen des fulminanten Durchbruchs ""Titanic rising"" die Welt erst recht im Griff halten. "Fragile in the morning / Can't hold on to much of anything", heißt es da, oder auch: "It's been so long since I felt really known." Ein Anflug von Trost bricht sich erst im mantraartig wiederholten Titel des Openers Bahn, der zugleich als erste Single begrüßt: "It's not just me, it's everybody." Als buddhistisches Credo beschreibt Mering seine Funktion, eine tief empfundene Vernetztheit alles Seienden, die hymnisch heraufbeschworen werden soll. Ein dem Album beigefügter Brief ordnet "And in the darkness, hearts aglow" als düsteren zweiten Teil einer Trilogie ein, deren Auftakt von Kollegin Depner bereits als "Soundtrack zum unausweichlichen Verfall" beschrieben wurde. Wohin kann die Reise also diesmal noch gehen? Weyes Blood lädt zu einer unwirklichen Führung durch die Unterwelt, mit bald kaum noch glimmender Fackel und schützender musikalischer Opulenz. Aber auch das ist nur scheinbar.

Freundliche Klavierakkorde und verspielte Gitarrenornamente kaschieren die Apokalyptik von "Children of the sun", Fingerschnipsen und Jahrmarktorgeln ironisieren sie beinahe im Refrain: "We don't have time anymore to be afraid", singt Mering, bloß die Zuspitzung vorangegangener Albträume: "So much blood on our hands." Harfenklänge und zuckende Geigen loten die Unmöglichkeit der letzten Zeile aus: "We wanna be free." Doch spätestens die komplexen Harmonien und verschlungene Melodieführung der famosen zweiten Single "Grapevine" verstricken sich vollends im Unheil eines metaphysischen Beziehungskonflikts. Kirchglocken läuten durch die Hook – und die Erzählerin strandet ziellos auf dem geisterhaften Freeway in der tiefsten Nacht: "Now we're just two cars passing by / On the grapevine." Kaum jemand versteht es zurzeit, vordergründige Pop-Songs über einer solchen atmosphärischen Tiefe balancieren zu lassen; jeweils etwa sechs Minuten lassen sich die Stücke des Auftakttrios Zeit für ihre ausführlichen Erkundungen, die stets einen kleinen Lichtschimmer im Kern ihrer Niedergeschlagenheit erkennen wollen. Bis hierhin ähneln die Mittel noch großteils denen von "Titanic rising" – dann taumelt das Album weiter abwärts.

"God turn me into a flower" ist vieles: Gebet, Seufzer, Nachdenken über den neu gefundenen Ruhm, eine Variation auf den Narziss-Mythos – aber vor allem der vielleicht ergreifendste Song, den Mering bislang veröffentlicht hat. Daniel Lopatins (Oneohrix Point Never) sphärische Synthies locken ihre sonst so souveräne Alt-Stimme aus der Reserve, bis sie durch Mark und Bein geht; Vogelgezwitscher vermählt sich mit zwischen Sanftmut und sakraler Intensität pendelnden Chorälen. Bevor Mering aus ihrer träumerischen Psychedelik wieder auftaucht – das keck betitelte "The worst is done" markiert mit flotterem Rhythmus und angeschlagenen Akustikgitarren die Rückkehr zu einer gewissen Klarheit – schwebt "Hearts aglow" durch Gewitterwolken, hofft mit bezaubernd-resignierten Melodien und an George Harrison erinnernden Leads auf Erlösung. Ein kurzes Streicher-Interlude leitet weitere Experimente im Weyes-Blood-Kontext ein: "Twin flame" klingt mit seinem Drum-Computer und dezent verhallten Gitarren wie durch Unterwasserwelten segelnder New-Wave-Pop. Merings Gesang schwingt sich in ungeahnte Höhen, ist von surrealer Schönheit durchtränkt. "In holy flux" samplet Fragmente des Albums und erodiert sie in gespenstischer Weise, bis Assoziationen mit William Basinskis "Disintegration Loops" nicht mehr weit scheinen.

Dass sich das Abschlussduo von "And in the darkness, hearts aglow" wieder etwas konventioneller ausnimmt, entpuppt sich gleichzeitig als Segen für die Komposition des Albums. Sein umwerfender Mittelteil darf darum umso stärker als opakes Zentrum ausstrahlen. Und beinahe beläufig weisen "The worst is done" mit seinem beschwingten 70er-Jahre-Folk-Pop und die majestätische Klavierballade "A given thing" Mering als eine der großen Klassizistinnen unserer Zeit aus. "Waiting for someone to save me / From this hall of mirrors", singt sie in ersterem, konterkariert den Titel gleich mit einer Gegenthese. Das Sehnen kann Weyes Blood anno 2022 also erst recht nicht lassen, doch tief unten, zwischen Tradition und Entrückung, findet es einen bemerkenswerten Ort. Und schließlich durfte ja einst auch Dante die Hölle wieder verlassen, um virtuos von ihr zu berichten.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Grapevine
  • God turn me into a flower
  • Hearts aglow
  • Twin flame

Tracklist

  1. It's not just me, it's everybody
  2. Children of the empire
  3. Grapevine
  4. God turn me into a flower
  5. Hearts aglow
  6. And in the darkness
  7. Twin flame
  8. In holy flux
  9. The worst is done
  10. A given thing
Gesamtspielzeit: 46:29 min

Im Forum kommentieren

saihttam

2023-05-24 11:47:44

Mich ärgert es extrem, dass sie ausgerechnet am 28.6. in Frankfurt spielt, weil ich da schon auf dem Weg zur Fusion bin. Bleibt nur zu hoffen, dass sie da vielleicht auch auftaucht.

AliBlaBla

2023-05-21 13:25:27

Immer noch mega Album! Würde sie auch gerne live sehen! Weiß jemand, welche live Musiker mit ihr touren?

kingsuede

2023-05-21 13:05:58

Ich überlege, nach Frankfurt zu fahren. 28. Juni.

zoolo

2023-02-04 21:33:04

Tolles Konzert gestern in Köln / Kulturkirche. Hätte es nicht gedacht, aber sie klingt genauso wie auf Platte, das kann man nicht immer antreffen.

saihttam

2023-02-02 00:48:48

Erzähl mal vom Konzert! Würde sie auch gerne mal live sehen.

Das Album erreicht mich allerdings nicht ganz so, wie ich mir das gewünscht hätte. Da fand ich die beiden Vorgänger stärker. Twin Flame ist für mich auch ein Highlight, sonst heben sich die Songs irgendwie alle zu wenig ab, sowohl vom Vorgänger als auch untereinander. Aber schön anzuhören ist es auf jeden Fall.

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