Jean-Michel Jarre - Oxymore

Columbia / Sony
VÖ: 21.10.2022
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Mal ganz konkret

Man tut sich ja immer leicht mit dem Begriff des Pioniers. Denn wirkliche Innovation ohne Einfluss eines Lehrmeisters, eines Mentors gibt es seltener als man vielleicht für möglich halten könnte. Jean-Michel Jarre beispielsweise ging in den Siebzigern sehr früh eigene Wege in der elektronischen Musik, während auf der anderen Seite des Rheins vor allem Kraftwerk die Entwicklung des selbst geprägten Begriffs "Techno-Pop" vorantrieben. Interessanterweise waren es einige Jahre vorher ebenfalls deutsche und französische Musiker, die als wahre Pioniere unabhängig voneinander in musikalische Dimensionen voranstießen, ohne die moderne Musik nicht denkbar wäre. In Deutschland war dies Karlheinz Stockhausen mit seiner elektroakustischen Musik, in Frankreich Pierre Schaeffer mit der "Groupe de recherches musicales", deren "musique concrète" bereits in den Fünfziger Jahren den Umgang mit natürlichen Geräuschen als Pseudo-Instrument definierte. Heute würde man wohl sagen, die Lehre von Sound-Samples.

Der junge Jean-Michel Jarre hatte also nicht die schlechtesten Lehrmeister, als er 1968 jenem Institut beitrat – seine über jeden Zweifel erhabene Weltkarriere spricht für sich. Einer dieser Lehrmeister war der Komponist Pierre Henry, der 2017 im Alter von nicht ganz 90 Jahren verstarb – und Jarre eine Bibliothek von Samples, Soundscapes und Songfragmenten vermachte. Nun könnte sich der Franzose mit 74 Jahren im Grunde genommen selbst schon zur Ruhe setzen, doch dieser Umstand schien neuen Erfindergeist zu wecken. Denn zum einen fügte Jarre diese Fragmente mit eigenen Kompositionen zu einer Art posthumer Kollaboration zusammen, zum anderen soll das daraus entstandene Album "Oxymore" gleich ganz neue Wege in der Produktionstechnik beschreiten – von immersiver Musik ist die Rede, von binauralen Klangwelten, die sich nur unter dem Kopfhörer erschließen.

Damit dürfte klar sein, dass "Oxymore" alles mögliche ist, nur keine leicht verdauliche Sammlung fluffiger Elektropop-Singles. Konsequenterweise herrscht nach dem ersten Durchlauf zunächst einmal Ratlosigkeit ob der Mischung aus Klangteppichen, die entfernt an Jarres Soundtrack-Arbeit "Amazônia" aus dem Jahr 2021 erinnern, zum anderen aber auch mit den Klangschnipseln aus dem seinerzeit überaus umstrittenen Album "Zoolook" aus dem Jahr 1984 kokettiert. Gibt man dem Album jedoch eine Chance, eröffnen sich höchst spannende Soundwelten. Wie zum Beispiel im Titeltrack, einer meisterhaften Symbiose aus Samples, Soundscapes und tanzbaren Beats. Immer wieder reißen akustische Widerhaken die Klangwolken auseinander, seien es nun die dissonanten, fast beängstigenden Bilder von "Animal genesis" oder das geradezu brutal auf die Tanzfläche zerrende "Zeitgeist".

Musique concrète mag in ihrer Evolution mittlerweile 70 Jahre auf dem Buckel haben. Doch Jarre gelingt es, die Grundidee in die Neuzeit zu hieven und dabei die Wurzeln heutiger elektronischer Musik offen zu legen. Manches bleibt dabei auch nach mehreren Durchläufen unverständlich wie das etwas penetrante "Synthy sisters" oder das leicht an "Chronologie" erinnernde "Sex in the machine". Richtig brillant wird es allerdings mit "Brutalism" – als wäre die Albumversion nicht genug, nahm der Franzose übrigens mit einem gewissen Martin L. Gore eine alternative Version auf, die völlig problemlos auch auf dem Album "Ssss", Gores Zusammenarbeit mit Vince Clarke, ihren Platz gefunden hätte. Doch egal ob diese Album-Version oder die Single, hier gibt es ganz und gar kein Ambient-Geblubber, sondern hier vibriert der Dancefloor. Die neuen Wege, die Jean-Michel Jarre mit "Oxymore" laut Eigenwerbung beschreiten will, sind also im Grunde gar nicht so neu. Er hat nur ein wenig des alten Staubs entfernt und seine eigenen Wurzeln in die Gegenwart gehoben. Und ganz nebenbei eine wunderbare Hommage an einen großen, innovativen und doch so unbekannten Künstler geschaffen.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Oxymore
  • Zeitgeist
  • Brutalism

Tracklist

  1. Agora
  2. Oxymore
  3. Neon lips
  4. Sonic land
  5. Animal genesis
  6. Synthy sisters
  7. Sex in the machine
  8. Zeitgeist
  9. Crystal garden
  10. Brutalism
  11. Epica
Gesamtspielzeit: 49:09 min

Im Forum kommentieren

peter73

2023-01-31 14:11:17

hm. schwieriges album mit guten ideen, aber leider schwankenden songmaterial... 6/10

hos

2022-11-07 22:03:24

nach der kürzlichen zeitumstellung passts doch fast. wurd ja ne stunde geschenkt.

Markus

2022-11-07 21:56:57

@Old Nobody - Übertragungsfehler meinerseits, lasse ich umgehend ändern. Sorry dafür.

Thomms

2022-11-05 23:05:46

Was für eine Freude, Ich habe mich so sehr auf das Album gefreut. Auch der Albumtitel war schon ein kleines Versprechen. Wie ungern schreibe ich dies, da mir JMJ musikalisch so wichtig ist. Leider fehlt mir die Inspiration, wo ist die kreative Kraft von einst? Ich möchte mir das Album nicht noch einmal anhören.

Old Nobody

2022-11-03 11:57:59

Sind tatsächlich leider nur 49 Minuten,schade. Wie kommt denn der Rezensent auf die 161?

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