Ásgeir - Time on my hands

Embassy Of Music / Tonpool
VÖ: 28.10.2022
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Blumen unterm Stroboskop

Bestünde der gesamte Planet bloß aus Island und seinen rund 360.000 Einwohnern, wäre er zum einen deutlich kälter, zum anderen trüge er ein völlig anderes musikalisches Antlitz. Der inzwischen 30-jährige Ásgeir Trausti Einarsson wäre seit einer Dekade zweifellos einer seiner größten Popstars, seine folkigen Kompositionen, die in zunehmend elektronischem Gewand aufkeimen, beinahe allen Ohren vertraut. Nun gibt es aber eben auch eine Welt jenseits der Vulkaninsel, die zu bereisen sich Ásgeir von Beginn an anschickt. Das traditionelle Patronym lässt er dafür zu Hause und verkürzt es zum Vornamen, dafür verdoppelt Ásgeir immer wieder seine Alben zu einer isländischen und einer englischen Fassung – ein Emblem seines ästhetischen Programms, das weltgewandt und heimatverbunden zugleich daherkommt, den Rückzug in die Einsamkeit mit einem Gespür für aktuelle Trends alternativer Popmusik verknüpft. "Time on my hands" erscheint nun zwar nur als anglophone Version, versucht sich aber an einem ähnlichen Spagat zwischen Folk-Mystik und Zeitgeist – mit recht unterschiedlichen Ergebnissen.

Da wäre zum einen die starke erste Single "Snowblind". TripHop-Elemente in den Strophen entladen sich in einem eingängigen Refrain mit leicht funkigem Groove: So catchy und tanzbar trat Ásgeirs Musik bislang selten auf. Während er eine winternächtliche Autofahrt imaginiert, schweben diverse Synthies geschickt zwischen Vorder- und Hintergrund, verleihen dem Song atmosphärische Tiefe und treiben ihn voran. Ohnehin erweist sich die Produktion von "Time on my hands" als durchgehend souverän: Schon im eröffnenden Titeltrack, der mit sanftem Folk die zehnteilige Selbstreflektion des Albums einleitet, umschmeicheln verwehte Bläser die intime Gitarre; immer wieder kontrastieren in der Folge kalte, klare Beats Ásgeirs entrückte, zwischen Falsett und Chorartigem oszillierende Gesangsharmonien. "Giantess" setzt als klanglich spannendster Moment noch einen drauf, versammelt düstere Soundmanipulationen, eine streichergetragene Hook, sprunghafte Rhythmuswechsel und Fetzen von Gitarrenmelodien, bevor er sich zu einem Crescendo mit donnernden Bläsern aufschwingt. Nach etwas mehr als drei Minuten verebbt die Kaskade in einem leisen Piano-Outro – und doch wirkt hier nie etwas überfordernd oder sperrig. Progressiver Pop, wie er sein kann, wenn Ásgeir sein gewaltiges Potenzial bündelt.

Dass "Time on my hands" trotz solcher Nachweise letztlich doch nicht vollends überzeugen kann, liegt hauptsächlich an seinem etwas zu routinierten, stellenweise klischeehaften Songwriting. Das synkopierte Schlagzeug von "Borderland" erinnert an Thom Yorkes frühe Soloalben, textlich rutscht Ásgeir aber sogleich in abgegriffene Naturromantik: "I've got you on my mind / Soaring through silent skies." "Blue" schwelgt als hübsche, aber etwas harmlose Ballade in seinem Kummer; "Like I am" plätschert als freundliche Hommage an 70er-Folkrocker wie Jackson Browne einen Ticken zu lange vor sich hin, ohne zu anderen Einsichten zu kommen als "Either find somebody new or love me as I am." Und wenn der Closer "Limitless" mit pluckernden Satellitensounds den Blick ins Universum richtet, um dem Trubel des Feierabendshoppings zu entkommen, formuliert sich eine nicht gerade avancierte Konsumkritik: "Everybody's on a shopping spree / Buying things that they don't really need."

Keiner dieser Songs stört den angenehmen Fluss des Albums, doch entsteht der Eindruck einer gewissen Nachlässigkeit. Schließlich versprühen der von Klavierschnörkeln verzierte Sub-Bass am Anfang von "Golden hour" oder die dekonstruierte Naturidylle von "Waiting room", das als stärkste Ballade auf "Time on my hands" behutsam eine Verlustgeschichte andeutet, direkt eine höhere Intensität. Seine ästhetische Vision pointiert Ásgeir selbst in einem scharfen Bild am besten: "Through the strobe light / A dandelion dress." Mitunter zeigt sich schon sehr klar, wie sich so etwas anhören könnte – ein wenig mehr thematische Variation ließe den Fokus aber noch schärfer werden.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Snowblind
  • Giantess
  • Waiting room

Tracklist

  1. Time on my hands
  2. Borderland
  3. Snowblind
  4. Vibrating walls
  5. Blue
  6. Giantess
  7. Like I am
  8. Waiting room
  9. Golden hour
  10. Limitless
Gesamtspielzeit: 36:24 min

Im Forum kommentieren

Huhnmeister

2022-10-29 00:21:48

In Bayern nicht.

Enrico Palazzo

2022-10-29 00:14:56

Der wird aber "Ausgier" ausgesprochen.

Huhnmeister

2022-10-28 20:51:31

Was sagt 1 Bayer, der sich in der Wüste verlaufen hat? - „Aasgeier, traust di?“

Enrico Palazzo

2022-10-28 16:04:51

Sehr schönes und durchaus cooles Elektroalbum!

Armin

2022-10-26 20:58:27- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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