Bill Callahan - Ytilaer

Drag City / Indigo
VÖ: 14.10.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

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"And we're coming out of dreams / As we're coming back to dreams." Bill Callahans erste Worte auf "Ytilaer" ziehen sich wie ein Mantra durch den Opener "First bird" und erklären die Bedeutung des obskuren Albumtitels: Die Realität steht Kopf, das Leben in einer gefühlt täglich mehr aus den Fugen geratenden Welt fühlt sich längst wie ein Traum an. Der große Existenzialist scheint wieder in seinem Metier angekommen zu sein, nachdem das stellenweise belanglose "Shepherd in a sheepskin vest" befürchten ließ, das Dasein als Vater und Ehemann habe seinen Kreativfluss ins Stocken gebracht. Doch ganz so einfach ist es nicht. Während sich besagter Song mit Band-Unterstützung und an den Rändern ins Bild drängender Klarinette immer weiter steigert, verschiebt sich der Fokus: "Shadow of my boy coming down the hall / And little sister's hand is deep in his palm." Familie spielt weiterhin eine Rolle in Callahans Texten, jedoch nicht als von außen abgeschottete Glaskuppel, sondern im Kontext des ganzen Chaos um sie herum. Das gleichzeitig unruhige wie besänftigende "Coyotes" verpackt diese Dialektik am klarsten, erzählt von nicht nur metaphorischen Raubtieren, die das familiäre Heim im Blick haben. "Yes, I am your loverman", singt der Mann mit dem unverkennbaren Bariton da als Refrain und beweist – ob mit oder ohne beabsichtigtem Nick-Cave-Verweis –, dass er auch im Angesicht der Gefahr seinen charakteristischen Humor behält.

Inhaltlich führt diese komplexe Verflechtung alter und neuer Callahan-Themen den Vorgänger "Gold record" durchaus fort, nicht jedoch musikalisch. Anstelle des akustischen Minimalismus treten fein verzierte, dezent jazzige Americana-Arrangements. Die meisten Songs beginnen behutsam gezupft, bevor die Mitmusiker*innen um Maestro Jim White an den Drums sie in unerwartete Richtungen wachsen lassen. Das funktioniert trotz der homogenen Ästhetik, ohne je ins Formelhafte zu driften, weil die Platte immer wieder neue Schlaglichter setzt und an entscheidenden Stellen von diesem Ansatz abweicht. In "Lily" etwa, das abseits ein paar atmosphärisch zitternder Saiten im Kammerspiel verharrt. Im früheren Track "Circles" begleitete der 56-Jährige seine Mutter am Sterbebett, hier kehrt er dorthin zurück und lässt sich von der Unfähigkeit loszulassen bis zur Séance treiben: "The medium said / You were sticking around halfway / To make sure my boy / Was okay." Ein weiterer Ausreißer ist "Natural information", ein Stück beschwingten Folk-Pops. Ein Kinderwagen-Spaziergang führt zur spirituellen Verschmelzung mit zwei Millionen Jahren Menschheitsgeschichte, während Callahan das intoniert, womit gerade zu Smog-Zeiten nie jemand gerechnet hätte: einen völlig ungebrochenen Gute-Laune-Song.

Die neugewonnene Zufriedenheit, die seit einigen Jahren die Wurzel seines Songwritings bildet, ist in solchen Momenten klar zu fassen, begegnet auf "Ytilaer" aber einem wiedererstarkten musikalischen Hunger. Gerade "Partition" ist unglaublich mitreißend, ein Krautrock-artig pulsierender Sechsminüter mit freigeistig tanzenden Gitarren- und Orgel-Akzenten, ganz im Sinne des zentralen Mottos: "You do what you've got to do." In der zweiten Hälfte von "Naked souls" spielt sich die Band in einen wahnsinnig intensiven Rausch, in dem besonders die Trompete eine neue Bewusstseinsebene zu erreichen scheint. An anderer Stelle atmet der Western-Stampfer "Bowevil" texanische Gluthitze, ehe "Planets" nach oben schaut. "Well, I spend so long / Lying on this rock / Staring at the sky / So long I forgot how to talk", gesteht Callahan und lässt kurz darauf tatsächlich das Wortlose sprechen. Die Instrumente stochern im schwarzen Nichts des Universums, treiben durch dissonante Sternenhaufen, suchen einander und finden sich auch, wenn der Track am Ende wieder sein Anfangsmotiv aufgreift. Es ist eine surreale Drehtür, das Auftauchen aus einem real scheinenden Traum oder das Abtauchen in eine unwirkliche Wirklichkeit – und der letzte Höhepunkt des vielleicht besten Bill-Callahan-Albums seit "Sometimes I wish we were an eagle".

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Partition
  • Naked souls
  • Coyotes
  • Planets

Tracklist

  1. First bird
  2. Everyway
  3. Bowevil
  4. Partition
  5. Lily
  6. Naked souls
  7. Coyotes
  8. Drainface
  9. Natural information
  10. The horse
  11. Planets
  12. Last one at the party
Gesamtspielzeit: 62:20 min

Im Forum kommentieren

AliBlaBla

2022-10-28 12:19:10

Aufs erste Ohr erinnert es mich am ehesten an sein Meisterwerk "APOCALYPSE" (2011), schön, das Emett "The Kairo Gang" dabei is (immer gut), das Album wird bei mir viel laufen, wie zuletzt "The river", auch schon neun Jahre her! So macht er LOVERMAN/Schmerzensmann Cave durchaus Konkurrenz, aber kann man das angesichts seines eigenen Kosmos' überhaupt sagen? Einzigartiger Typ, one of a kind Stimme auch.

NeoMath

2022-10-16 15:44:06

Mal abgesehen von der Kollab mit Bonnie Prince Billy kann ich mit jedem Callahan-Album eine Menge anfangen.
Ytilaer ist für mich trotzdem bisher DAS Highlight nach Apocalypse, welches ich nach wie vor sehr sehr schätze.

dreckskerl

2022-10-16 15:26:48

Ich hatte jetzt auch die Zeit mir das ganze Album anzuhören und gehe mit Wertung und Marvins Worten absolut mit.

Ich bin sehr gespannnt wie das Album in ein paar Wochen wirkt, aber es ist gespickt mit Highlights, die eben gerade musikalisch enorm überraschen.
Und das ich bei einem Bill Callahan Song nach 30 Sekunden an Amon Düül 2 erinnert werde ist...jenseits von erwartet!

Cerberus vom Album "Yeti" 1970

https://www.youtube.com/watch?v=dHrVw7KsJPs

cargo

2022-10-16 10:42:43

Für mich sein bestes Album seit langem. Ziemlich unspektakulärer Start, aber ab "Naked Souls" wird es ganz groß.

Unangemeldeter

2022-10-14 15:04:49

Nachdem ich Coyotes ganz gut, Natural Information aber ziemlich mies fand, hat mich das Album leider aufs erste Ohr überhaupt nicht kriegen können, bin aber vielleicht auch etwas Bill Callahan-gesättigt. Ich heb es mir für irgendwann später auf.

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