Die Nerven - Die Nerven
Glitterhouse / IndigoVÖ: 07.10.2022
Ofen aus
"Ich muss manchmal frieren in diesem Land", stellt das Stuttgarter Trio Die Nerven nüchtern und ohne Umschweife fest. Der Titel des knackigen Stücks könnte kaum provokanter sein: "Ich sterbe jeden Tag in Deutschland". Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn, der bandgewordene Albtraum einer jeden schwäbischen Vorzeigefamilie, sind zurück mit Album Nummer fünf. Das ist ein verdammtes Glück. Es sind jedoch beileibe keine ruhigeren oder positiveren Zeiten verglichen zu 2018, als das großartige "Fake" in einem rasant wachsenden Kosmos der Verschwörungserzählungen a.k.a. Internet erschien. Nein, die globale Pandemie mit ihren sozialen Verwerfungen noch im Nacken und mit fassungslosem Blick auf Russlands Angriffskrieg in Europa, sind die Tage in 2022 noch wahnwitziger als man sich es in den pessimistischsten Gedanken vorzustellen vermochte.
"Was für eine Zeit zu leben", summiert es die Kombo treffend. Aber natürlich sind bodenlos negative äußere Umstände auch wie geschaffen für Musik von Die Nerven. Riegers eingangs angerissenes Frösteln in Deutschland bezieht dabei nicht einmal die akut explodierenden Energiepreise samt unterkühlter Wohnzimmer mit ein: "Ich sterbe jeden Tag in Deutschland" thematisiert – wie dieses selbstbetitelte Album als Ganzes – die soziale Kälte. Als Normalität gelebt, liegt sie den Krisen der Wohlstandsgesellschaft längst zu Füßen, war Wegbereiter des ungezügelten Kapitalismus, des "Geiz ist geil", des "Vom Billigsten mir am meisten" – und somit am Ende der Effektkette auch irgendwo der jüngsten Inflation. Stücke wie der mitreißende, bald brachiale Post-Punker "Alles reguliert sich selbst" stehen im Lichte der Kritik an der sozialen Kälte – oder nennen wir das Kind mal beim Namen: am Neoliberalismus – ähnlich wie jüngst Muff Potters tolle neue Platte "Bei aller Liebe".
Musikalisch sind Die Nerven schon immer auch woanders unterwegs. Wer "Fake" mochte, schließt "Die Nerven" vermutlich schnell in sein Herz. Es wummert, zuckt, pocht und drückt wie üblich. In Kombination mit flächigen Keyboard-Lines allerorten sind die neuen Stücke aber zugleich auch wunderbar catchy. Absolute Qualitätsware aus dem Ländle, vortrefflich produziert, je nachdem ob Atmosphäre bewahrt oder Staub aufgewirbelt werden soll. So weit, so wenig überraschend. Dennoch gibt es subtil auch Momente der Weiterentwicklung, etwa wenn das Trio einen offensichtlichen Pop-Hit wie "Keine Bewegung" raffiniert arrangiert und maßgeschneidert ins Die-Nerven-Kostüm steckt. "Ich könnte überall hingehen / Aber ich kann mich nicht bewegen / Kann mich nicht bewegen". Selten rahmte ein simpler Vers die Überforderung, Verstörung und Ängste der Nach-Boomer-Generationen treffender ein.
"Ist mir egal / Was ist und bleibt / Ich habe alles schon gesehen / Und fand es schön", heißt es dann im windschief galoppierenden Punkrocker "Ganz egal". Ist das noch Auflehnung und Agitation, oder schon Kapitulation und Resignation? Es fällt schwer, aber lauscht man dem Opener "Europa", dann scheint da berechtigterweise wenig Hoffnung, das das proklamierte Bild angeblicher Menschlichkeit, von Werten, Moral und Solidarität, weder innerhalb der EU, noch an ihren Außengrenzen jemals gelebt wurde oder in Zukunft gelebt werden wird. Ernüchtert von den Ereignissen hält die Truppe fest: "Und ich dachte irgendwie in Europa stirbt man nie." Man braucht sicherlich keinen Die-Nerven-Song, um zu raffen, dass es längst eher fünf nach und nicht fünf vor Zwölf ist: ob in der Sozialen Frage oder im "Kampf gegen die Klimakrise", welcher diesen Namen bislang nicht im Ansatz verdient. Und so ist es logisch, dass das feine "180 Grad" zum Schluss – stellvertretend für das Agieren der Menschheit – den Wagen mutwillig gegen Wände fährt. Warnung und Dekonstruktion? Ist nicht mehr. Die düstere Zukunft hat längst begonnen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Ich sterbe jeden Tag in Deutschland
- Keine Bewegung
- Alles reguliert sich selbst
- 180 Grad
Tracklist
- Europa
- Ich sterbe jeden Tag in Deutschland
- Keine Bewegung
- Alles reguliert sich selbst
- Ganz egal
- Ein Influencer weint sich in den Schlaf
- Der Erde gleichz
- 15 Sekunden
- Ein Tag
- 180 Grad
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Hierkannmanparken
2024-11-29 16:05:08
Late to the party: Was für ein Brett!
Beschäftige mich seit dem neuen Album mit denen, durfte DER ERDE GLEICH vorgestern auch mal live erleben. Das nenne ich mal ne Reise!
Finds auch immer wieder beeindruckend, wie sie in den Lyrics so intersubjektive gefühlte Realitäten formulieren, gerade in EUROPA. Diese Qualität erinnert mich auch immer wieder an Tocotronic.
fuzzmyass
2023-01-06 20:03:09
Auf jeden Fall unter den Jahreshighlithts, sowohl Album als auch Konzert
nörtz
2023-01-06 18:00:18
Live waren die echt geil.
Sick
2023-01-06 17:50:32
Mein Album des Jahres.
Live echt der Hammer. Mir sind trotz Ohrstöpsel fast die Gehörgänge zerbröselt.
boneless
2022-12-17 14:44:34
Das wollte ich auch schon verlinken. Ich finds ja witzig, wie schüchtern die alle sind. Hätte ich nicht unbedingt vermutet.
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