Kraftklub - Kargo

Vertigo / Universal
VÖ: 23.09.2022
Unsere Bewertung: 5/10
5/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Seichtes Gepäck

"Gib' her das Handy, ich will jetzt mal was Geiles hören" – so die Worte, welche das tapfere Schreiberlein dieser Rezension auf einer Party im Sommer 2022 als Feedback auf die eigens erstellte Feier-Playlist erreichten. Puh, das will erst mal verdaut werden. Manchmal kann das Leben wirklich hart und erbarmungslos sein.

Woran es wohl lag? Etwa an den schönsten Sigur-Rós-Bangern der 2000er? Oder doch an den schmissigsten Radiohead-Gassenhauern seit "The king of limbs"? Und was hat diese dramatische Erzählung überhaupt mit "Kargo", dem mittlerweile vierten Studioalbum aus dem Hause Kraftklub in Chemnitz zu tun? Nun, auf die knallharte Ansage folgte ohne Umschweife die seinerzeit neueste Single der heißgeliebten Indie-Rocker: "Ein Song reicht". Und zwar nicht nur einmal, sondern in Dauerschleife für die nächsten paar Stunden. Zumindest gefühlt. Was lernt man nun daraus? Erstens, dass das tapfere Schreiberlein es dann vielleicht doch lieber beim Schreiben belässt. Zweitens aber vor allem auch: Selbst satte fünf Jahre nach "Keine Nacht für Niemand" haben Kraftklub rein gar nichts von ihrer Strahlkraft im deutschen Indie-Mainstream verloren. Ein Lebenszeichen, ein Song, und die Hütte brennt sofort wieder. Trotzdem stellt sich erneut die Frage, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Weder das 2014er-Album "In Schwarz" noch der Vorgänger haben die seit über zehn Jahren bewährte Kraftklub-Formel signifikant aufgebrochen. Man könnte vermuten, dass sich zumindest die Band allmählich selbst damit langweilt.

Aber nicht doch. Direkt zum Start ins "Kargo"-Universum servieren Kraftklub Trademarks in Reinkultur, die sämtliche Erwartungshaltungen direkt wegspülen. Das eingangs erwähnte "Ein Song reicht" mauserte sich als Comeback-Single und Trennungsschmerz-Banger in Millisekunden zum penetranten Sommerhit. Was nicht sonderlich verwundert, wenn der fiese Ohrwurm-Refrain kickt und sofort vergessen lässt, dass die schmachtenden Herren mittlerweile längst in ihren nicht mehr ganz blutjungen Dreißigern angekommen sind. Im Opener "Teil dieser Band" wärmen Kraftklub erneut das breitbeinige Mantra aus "Eure Mädchen" auf und setzen sich augenzwinkernd mit dem eigenen Status auseinander. "Von 17 Uhr Festival Opener / Zu 17.000 Open Air" und "Ich kann nicht singen / Ich spiel' kein Instrument / Aber alle am Springen / Und ich schrei' den Refrain" sind die lyrischen Posen, mit denen Sänger Felix Brummer in dieser Auflage spielt. Wer hat, der kann. Skurril wird es in "Fahr mit mir (4x4)", wo sich Tokio Hotel höchstpersönlich als Gäste die Ehre geben. Nun wirkt es nicht wahnsinnig authentisch, wenn Bill Kaulitz pathosgetränkt "etwas mit Heimatministerium kann für mich keine Heimat sein" proklamiert, Spaß macht der schräge Song aber trotzdem. Was vor allem auch am gewohnt tighten Zusammenspiel der instrumentalen Fraktion und einem lässigen Refrain liegt. Muss man nicht geil finden, kann aber viel Freude bereiten.

Kraftklub wirken auf "Kargo" zunächst frisch, energetisch, befreit – und verstehen diese Vibes auch zu übertragen. Problematisch wird es allerdings jenseits der Hitsingles, denn dort lauert in den staubigen Ecken des Frachtcontainers reichlich abgedroschenes Füllmaterial. Songs wie die Schmachtfetzen "Blaues Licht", "Kein Gott, kein Staat, nur Du" oder "So schön" hat man nicht nur von Genrekolleg*innen, sondern auch von Kraftklub selbst mittlerweile zur Genüge gehört. Aufhorchen lassen im weiteren Albumverlauf lediglich noch das düstere "Angst" und das überraschend selbstreflektierte "Vierter September". Ersteres überzeugt mit dezenten Industrial-Anleihen und einer verbitterten Abrechnung mit der urdeutschen Angst vor Veränderung und Fortschritt: "Ich hab' Angst / Hast Du Angst? Alman Angst?" Letzteres bezieht sich auf das "Wir sind mehr"-Konzert im September 2018 – oder vielmehr auf die Katerstimmung und die moralischen Fragezeichen danach. "Bestätigung, Applaus ist schön / Doch was bleibt übrig, nachdem wir nach Hause gehen?" fragt sich Brummer offenkundig im Schatten der Großveranstaltung. "Doch am vierten September / Fahren die Züge wieder regulär / Und nichts hat sich verändert / Die Innenstadt ist wieder leer" ist die traurige Feststellung danach. Eine interessante, selbstkritische Introspektive über vermeintliche Zweifel an den eigenen Aktionen – wirkliche Hilfe für Opfer rechter Gewalt oder doch nur Echo Chamber im eigenen Dunstkreis? Vielleicht ja auch ein Zeichen für die Zukunft des Fünfers aus Chemnitz, denn ein bisschen Selbstkritik würde auch rein musikalisch nicht schaden. "Kargo" verschießt sein Pulver zu schnell und bietet danach zu wenig Spannendes. Spaß scheint die Band aber nach wie vor zu haben, und besser als der Bürojob ist es allemal. "Gott ich bin jeden Tag dankbar dafür / Für einen Job ohne Selbsthass und Magengeschwür."

(Hendrik Müller)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Teil dieser Band
  • Ein Song reicht
  • Vierter September

Tracklist

  1. Teil dieser Band
  2. Ein Song reicht
  3. Wittenberg ist nicht Paris
  4. Fahr mit mir (4x4) (feat. Tokio Hotel)
  5. Blaues Licht
  6. Kein Gott, kein Staat, nur Du (feat. Mia Morgan)
  7. Angst
  8. Vierter September
  9. So schön (feat. Blond)
  10. Der Zeit bist Du egal
  11. In meinem Kopf
Gesamtspielzeit: 36:12 min

Im Forum kommentieren

YogiMuc

2022-10-13 13:55:14

Höre mir gerade das Album zum ersten Mal komplett an und bin gerade bei Angst hängen geblieben. Fällt komplett aus der Reihe und hat mich sehr positiv überrascht. Kam unerwartet aber gefällt mir sehr. Der Anfang ist ganz nett und solider, spaßiger Kraftklub Poprock, nicht mehr und nicht weniger.

Francois

2022-09-27 16:40:51

Rezension triffts ganz gut.
Relativ guter Beginn - die zweite Hälfte ist mehr oder weniger ziemlich belanglos.

Naja, groß sind sie ja. und pro Album haben sie jetzt 4-5 Hits für Konzerte in den großen Hallen.

Kamm

2022-09-23 11:25:51

Habe mich nie mit denen beschäftigt, aber das Tokio Hotel-Ding finde ich überraschend super! :)

lars.fm

2022-09-23 09:22:44

Gehe mit der Rezension mit, ab der zweiten Hälfte kippt das Album ein bisschen. Die netten Ansätze sind da aber so recht zünden will nichts mehr.

AndreasM

2022-09-22 16:43:07

Die Band ist halt die ostdeutsche Version von Wanda, mehr als okay-gut wird das nicht mehr, auch wenn man sich mal mehr versprochen hat, aber das ist schon mal 1000 mal besser als der meiste Rest, der gerade erfolgreich ist.

ich habe zuletzt überlegt, ob sie vielleicht eher die ostdeutschen Toten Hosen werden?
Und gleichzeitig bin ich mir gar nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Wohl beides - aber ja sowieso sehr steile These ;)







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