
Twin Tooth - Cusp
Hall und EchoVÖ: 26.08.2022
Wachstumsschmerzen
Ein bisschen anstrengend ist es ja schon: Da hat man gerade ein neues Baby und dann zahnt die kleine Knatschnase direkt. Das tut freilich weh, also sei es dem kleinen Balg vergönnt und außerdem sind es in diesem speziellen Fall auch direkt Zwillingszähne, die raus wollen, also die doppelte Schmerzdosis. Und zum Glück haben die Eltern des musikalischen Neugeborenen Twin Tooth ihrerseits genügend Erfahrung darin, ein künstlerisches Projekt aufwachsen zu sehen. Sängerin Anna Kohlweis ist unter anderem als Paper Bird schon mehrfache Album-Mutter und Jan Preißler kommt zumindest in Teilen bei Wælder und Vögel Die Erde Essen für die Vaterschaft in Frage. Ihr erster gemeinsamer Langspieler "Cusp" befindet sich dementsprechend in erfahrenen, behutsamen Händen.
Dass die beiden für Twin Tooth eine kreative Fernbeziehung zwischen Wien und Berlin geführt haben, merkt man den zehn Stücken dabei kein bisschen an. Auch wenn der Opener "Down" mit seinen vagen Klangflächen noch etwas Mühe bei der Orientierung hat und Ängste davor äußert, fallengelassen zu werden, nimmt er behutsam Kontakt auf. Es ist die letzte Möglichkeit, noch skeptisch auszusteigen, denn schon im nachfolgenden "Gap year" ist das Vertrauen aufgebaut und auf einem Drumloop wärmt Kohlweis ihre Stimme mit Spoken Word auf, um dann mit leuchtenden Augen zu fragen: "What is there more beautiful than a living thing in transformation?"
Obwohl sich auf dem Papier die "elektronischen Noise- und Ambient-Spuren" und die Entstehung während sozialer Isolation und dem dazugehörigen Alleinsein wie ein musikalischer Schneesturm lesen, strotzt "Cusp" im Kern vor Wärme. Trotz des schmerzhaften Prozesses der Selbstfindung bleibt in "Still life" Zeit für Spielereien mit mehreren Vocalspuren in verschiedenen Höhen und für analoge Percussions, zu denen Kohlweis prächtige Flügel ausbreitet und nur noch auf den richtigen Moment wartet: "If the wind picks up I could be gone tonight." Die Gitarrenmelodie in "Seedlings" wiederum – dem ersten Song, den beide zusammen produziert haben – trägt zum gradlinigsten Pop des Albums bei und ist ein musikgewordenes, herzliches "Unkraut vergeht nicht".
Dramatischer geht es in dem in einen Film-Noir-Gewand gehüllten "Vertigo" zu, das ein bisschen an das ikonische "Sour times" erinnert. An anderer Stelle lässt auch Jan Preißler mal seine Stimme durch die Membran laufen, aber das zweiminütige "Laika" ist nur ein kurzes Intermezzo. Ganz im Gegensatz zu "Watermark sirens", das mit tänzelndem synthetischem Bass und gemächlicher Steigerung in Kohlweis’ Stimme zu einer der anziehendsten Stücke der Platte wird und in stürmische Gewässer lockt. Bei so vielen Einflüssen und Erfahrungen wächst "Cusp" in einem immensen Tempo. Gerade hat es die ersten Zähne bekommen, schon hat es sich in den Gehörgängen festgebissen. Und während es sich da bequem macht, schauen die stolzen Eltern Kohlweis und Preißler sicher mit etwas Abstand drauf und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Gap year
- Still life
- Vertigo
Tracklist
- Down
- Gap year
- Still life
- Seedlings
- Vertigo
- Laika
- Trash fire
- Watermark sirens
- Sister moon beams
- Serpent
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Armin
2022-08-26 10:59:16- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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- Twin Tooth - Cusp (1 Beiträge / Letzter am 26.08.2022 - 10:59 Uhr)