Muff Potter - Bei aller Liebe
Huck's Plattenkiste / IndigoVÖ: 26.08.2022
Wir können auch anders
Auch wenn dieser Text schon zu Beginn schamlos erste Kalauer verbrät: Wenn Herzensbands wie Muff Potter nach langer Abwesenheit wiederkehren, ist das neben freudigem inneren Sackhüpfen auch ein Tanz auf der Rasierklinge. Mit den "Bordsteinkantengeschichten" betrieb der Vierer aus Rheine im Münsterland bereits im Jahr 2000 höchstes emotionales Lattenmessen, auch "Heute wird gewonnen, bitte" und "Von wegen" sind absolute Referenzwerke für viele Bands der aktuellen deutschen Punkrock-Szene. Doch Pläne und Lebenswege harmonierten nicht mehr so gut, Trennung im Jahr 2009. Und mit ihr viel zu viele Lenze ohne potterschen Fahrtwind. Immerhin inspirierender Lesestoff von Sänger Nagel, fortan unterwegs als Buchautor Thorsten Nagelschmidt. 2018 und 2019 dann Konzerte. Auf einmal! Und Gänsehaut. Gefühlt alles wie früher – und dann doch nicht. Gitarrist und Co-Vokalist Dennis Schneider ("Wir sitzen so vorm Molotow", "Bis zum Mond") stieg kurz nach der Reunion aus, Felix Gebhard heißt der neue kreative Mann an den Saiten. Zittrige Hände sind die ersten Begleiter beim Lauschen von diesem nun tatsächlich realen, achten Album namens "Bei aller Liebe".
Vorab: Muff Potter 2022 sind nicht Muff Potter 2009. Doch diese zehn Songs machen das Quartett vielleicht relevanter denn je. Das liegt wohl zunächst einmal an der Zeit, in der wir leben. Rasant wachsende soziale Ungerechtigkeit, Völkerrechtsbrüche an den EU-Grenzen, das Schlittern von der Corona-Ohnmacht in die weltpolitische Krise, psychische Belastungen und Zukunftsangst. Und an der Fähigkeit der Band, jene Themen intelligent zu spiegeln. An den lyrischen Knallkörpern, die Nagelschmidt unter nahezu jeden Song legt. Hier und da leicht verschütt die Zündschnur, doch wehe die Hirnsynapsen funken wie etwa in "Flitter & Tand", wenn Nagelschmidt das rückgratlose "Weiter, immer weiter" auf der Karriereleiter zynisch auf den Punkt bringt: "Warum tun wir uns das an? / Wir sind die freisten Menschen / Die freisten Menschen, die wir kennen." Zu gut ebenso "Ein gestohlener Tag". Das Stück beginnt inmitten zelebrierter Prokrastination als fast poetischer Gegenentwurf zum Höher, Schneller, Weiter da draußen. Der Refrain hebt die Faust mitsamt feierlichem Chor und Bläser-Fanfare, welche überleitet zum ausladenden, berstenden Post-Punk-Finale. Nach fast acht Minuten bleibt bloß noch das Mantra im Ohr: "Turn on / Tune in / Drop out / Sign out / FUCK OFF!" Und offene Münder.
Mit ähnlicher Eckzahnstellung beißt der tolle Postpunker "Hammerschläge, Hinterköpfe" fest zu und reiht zu wuchtigen Stoner-Gitarren aus Freude am Surrealen gleich ein dutzend neoliberale Schlaumeie... äh, ...lindnereien aneinander. "Wenn jeder an sich selbst denkt / Ist an alle gedacht." Muff Potter 2022 klingen nicht wie Muff Potter bis 2009. Was Punk irgendwann mal war oder noch ist, spielt für "Bei aller Liebe" kaum eine Rolle. Kein Re-Start nach Schema "F", welches dieser Band ohnehin meist fremd war. Die Kompositionen sind manchmal verspielt, manchmal straight, immer wieder auch mit fein getakteten Turns versehen, die beides kombinieren. Der Sound ist durchaus vielschichtig, wie etwa die Auskopplung "Flitter & Tand": Leicht entrückte, energische Stampf-Drums, nach wie vor bedient von Grüdnungsmitglied Torsten Brameier, markantes Gitarrenriff, nachhakender Refrain. Wenn dieses Werk wirkt, dann eines nicht: verkopft. Es geht durchaus auch leichtfüßig zu wie im tollen "Wie Kamelle raus" oder der kleinen Indie-Hymne "Der einzige Grund aus dem Haus zu gehen", den selbst der „Smalltown boy" ab und zu findet. Frei aus der Hüfte auch der Diss jener Marktliberalen in "Privat", die sich jeden Tag alles krallen, was geht, weil sie es eben kaufen können – und weil unsolidarisch sein im Land des Nudelhamsterns eher Tugend denn Makel ist.
Der hymnische Schlusspunkt "Schöne Tage" vereint in 6:40 Minuten eigentlich alles, was Muff Potter immer ausmachte. Und auch das ist noch wie früher: Nagelschmidt nennt die Dinge beim Namen, wie man es sollte. Er packt seine Beobachtungen in vordergründig simple aber vielsagende Worte, die man genau so auch wählen würde, wenn man denn könnte. Formvollendet im prosaischen "Nottbeck city limits", diesem neunminütigen Manifest, das die Ausbeutung und Ausgrenzung osteuropäischer Arbeiter*innen in der westdeutschen Billigfleisch-Produktion in ihrer boden- wie skrupellosen Selbstverständlichkeit fesselnd und en Detail beschreibt. Und der diesen beschämenden Zustand, der jegliche Moral mit Füßen tritt, versucht zusammenzubringen mit dem selbstverständlich erscheinenden, priviligierten Leben von Künstler*innen und allen, die eben nicht ihre paar mickrigen Kröten mit einem Kilo Presswurst verdienen müssen. Wenn diese beiden Welten durch dieselben Augen versuchen übereinzukommen, dabei die brutale Hackordnung unserer Gesellschaft offenlegen, von Gewinnern des Kapitalismus und den viel zu vielen Verlierern, ist das in der schonungslosen Konfrontation vor allem eines: verstörend. Und bewegend bis zum Anschlag. Den Kalauer zum Schluss? Gibt's sicher woanders.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Flitter & Tand
- Ein gestohlener Tag
- Nottbeck city limits
- Schöne Tage
Tracklist
- Killer
- Ich will nicht mehr mein Sklave sein
- Flitter & Tand
- Ein gestohlener Tag
- Wie Kamelle raus
- Hammerschläge, Hinterköpfe
- Privat
- Der einzige Grund aus dem Haus zu gehen
- Nottbeck city limits
- Schöne Tage
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Autotomate
2023-01-27 14:33:28
Na, vertippst... Schon wenigstens 2:10 bis 2:25
Autotomate
2023-01-27 14:31:55
Kittchen – "Englischsprachiger Text, deutscher Titel, total crazy!" schreibt Nagel. Ok, "Kittchen" hat einige Jets-To-Brazil-Vibes, aber wenig von der "Orange Rhyming Dictionary". Die beiden anderen JtB-Alben sind nicht so mein Fall, und auch das hier lässt mich nicht weiter aufhorchen (nur kurz vielleicht durch den rein akzentbedingten The-Notwist-Vibe). Lieblingsmoment des Songs: 2:10 bis 2:15
Autotomate
2023-01-27 10:22:30
"Jets-To-Brazil-Vibes"? Dann höre ich mir das nachher auch mal an. (Neulich erst wieder die "Orange Rhyming Dictionary" gehört)
Obrac
2023-01-27 10:19:38
"Schöne Tage" ist der bessere Schlusssong, "Kittchen" sollte afaik der Opener sein. Da finde ich "Killer" schon passender. Aber die Jets-To-Brazil-Vibes und Nagels umwerfender Akzent stehen "Kittchen" schon gut ;)
Cool, dass noch einer Jets to Brazil kennt ;)
"Schöne Tage" ist für mich ein Albumhighlight und wunderbar passend als Abschlusssong.
Ich finde das Album passabel. Ein mindestens OKes Comeback. Wahrscheinlich waren meine Erwartungen zu groß. Letztlich ist die Platte vor allem stilistisch so geworden, wie sie zu erwarten war.
Hoschi
2023-01-27 10:14:40
Mir gefällt "schöne Tage" als Closer dann doch besser.
Kittchen ist trotzdem wirklich gut geworden.
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