Julia Jacklin - Pre pleasure

Transgressive / [PIAS] Cooperative / Rough Trade
VÖ: 26.08.2022
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

The limits of control

Zu Beginn ihres dritten Albums "Pre pleasure" sitzt Julia Jacklin in einer Kirche. Sie versetzt sich in ihr siebenjähriges Ich zurück, erinnert sich an Fragmente ihrer Kindheit an einer katholischen Mädchenschule: an Gebete für Prinzessin Diana etwa, oder eine seltsame Obsession mit dem "Jesus Christ superstar"-Soundtrack. "I'd be a believer / If it was all just song and dance", heißt es hier, aber auch: "I'd be a believer / If I thought we had a chance." Spricht noch die kleine Julia, die bereits eine kritische Distanz zu den religiösen Einflussversuchen aufgebaut hat, oder schon die erwachsene? Der Glaube an höhere Mächte passt jedenfalls so gar nicht zu dieser Frau, die spätestens seit "Crushing" und dessen grandiosem Opener "Body" gegen die Fremdbestimmung ansingt. Und auch das zitierte hiesige Eröffnungsstück "Lydia wears a cross" wirbelt sich am Ende aus seiner Drumcomputer-Hypnose heraus, als wolle es ein von außen aufgezwängtes Korsett abstreifen.

Stilistisch findet sich Jacklin meistens bei 2010er-Songwriter-Königinnen wie Angel Olsen eingeordnet und tatsächlich lässt sich "Pre pleasure" auch ohne offensichtlichen Country-Einschlag mit deren keine drei Monate vorher veröffentlichtem "Big time" in Verbindung bringen: Es ist ruhiger, subtiler als die vorigen Werke der Australierin, verzichtet auf Gitarren-Geschrammel und größere Ambitionen zugunsten von grazil-minimalistischem Akustik-Pop. In diesem Kontext wirken die gelegentlichen Ausbrüche umso erschütternder. "Love, try not to let go" tänzelt auf einer Piano-Wiese um das Four-Letter-Word herum, während immer wieder kurze Gewitter aus Schlagzeug-Stampfern und verzerrten Saiten aufkommen. Der einzige Uptempo-Song "I was neon" stellt sich derweil der Angst vor sich selbst, ehe im Rausch dieses stoischen Garagen-Rocks Jacklins Stimme aus allen Ecken des Raums zu kommen scheint und die Konturen der eigenen Identität verschwimmen: "I don't wanna lose myself again."

Abseits solcher Momente macht die 31-Jährige Musik für diejenigen, die genau hinhören, die sich auf die klugen Beobachtungen, emotionalen Geständnisse und feinen Melodien auch unter einer etwas gleichförmigen Oberfläche einlassen wollen. "Ignore tenderness" nutzt Porno-Metaphern, um die Abstumpfung weiblicher Sexualität im Angesicht der an sie gestellten Erwartungen zu verarbeiten – der polierte Orchester-Glanz ist dabei keine Parodie, sondern vielmehr ein Symbol dafür, wie fest derartige Vorstellungen auch in einer sich für moralisch sauber haltenden Gesellschaft verwachsen sind. Im Herzen der Platte steht mit dem nur auf Gesang und ein paar gestreichelte Akkorde beschränkten "Less of a stranger" ihr reduziertestes Stück. Jacklin erzählt vom Fremdsein ihrer eigenen Mutter, und obwohl es um eine ganz spezifische Erfahrung geht, findet diese Nachhall in allen, die ähnliche Gefühle kennen: die wissen, wie es ist, wenn man Distanz zu einer Person verspürt, die einem eigentlich ganz nah sein müsste.

So mag Jacklin zwar selbst längst die Autonomie über ihren "Body" wiedererlangt haben, doch was in anderen Körpern so vorgeht, bleibt oft ein verschlossenes Buch. Der Closer "End of a friendship", dem Owen Pallett ein ganz wundervolles Streicher-Arrangement schenkt, dokumentiert, wie eine Freundin der Protagonistin diese scheinbar aus dem Nichts abstoßend findet – und wie es sich für ideale Erwachsene gehört, folgt kein sinnloser Streit, sondern stille Akzeptanz, als hätte sich gerade einfach nur der Wind gedreht. Im etwas lauter rumpelnden "Be careful with yourself" ist dann ausnahmsweise Jacklin diejenige, die Kontrolle ausüben will, weil sie es nicht ertragen könnte, wenn ihrem Gegenüber etwas passiert und die gemeinsame Zukunft aus den Fugen gerät. Der Kern ihrer Musik verdichtet sich in diesem Song vielleicht wie in keinem anderen: die ständige Reibung von Freiheit und Bindungssehnsucht, das angenehme Scheitern der Unabhängigkeit, weil es ohne andere Menschen ja doch nicht geht. "Let's keep all our doctor's appointments" – kann es eine schönere, pragmatischere Liebeserklärung geben?

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Lydia wears a cross
  • I was neon
  • Be careful with yourself
  • End of a friendship

Tracklist

  1. Lydia wears a cross
  2. Love, try not to let go
  3. Ignore tenderness
  4. I was neon
  5. Too in love to die
  6. Less of a stranger
  7. Moviegoer
  8. Magic
  9. Be careful with yourself
  10. End of a friendship
Gesamtspielzeit: 37:54 min

Im Forum kommentieren

Kojiro

2022-12-06 06:41:11

Danke für das gute Review! Klingt schön. Schade, dass wir so früh wieder los mussten...

Unangemeldeter

2022-12-05 16:48:43

Schön, freut mich dass München auch so schön war! Die Beschreibung der Stimme gefällt mir gut, das hat sich auf mich live auch nochmal deutlich krasser übertragen als von der Platte.

myx

2022-12-03 08:46:43

War wirklich ein toller Abend am Freitag vor einer Woche im Strom. Zunächst Stella Donnelly, deren Frohnatur von der Bühne plätschert wie ein jungfäulicher Gebirgsbach. Danach die deutlich aufgewühltere, aber nicht weniger sympathische Julia Jacklin.

Ich habe mir lange überlegt, warum mich die Stimme von Julia Jacklin so fasziniert, und ich glaube, ich habe eine Antwort gefunden: Sie changiert zwischen Verletzlichkeit und Stärke, zwischen Traurigkeit und Zuversicht. Man möchte sie zugleich trösten und von ihr getröstet werden, mit ihr Weinen und sich von ihrer Hoffnung mittragen lassen. – Vielleicht etwas pathetisch formuliert, aber so irgendwie muss es sich wohl verhalten.

Ich habe beide Auftritte genossen, aber bei Julia waren meine Glückgefühle grösser, da gibt es so viele Lieblingssongs, wie "Body", "Be careful with yourself", "Good guy", "Pressure to party", "Don't know how to keep loving you", "I was neon" usw. usf.

Da sie im kommenden Jahr beim Primavera in Barcelona auftritt, könnte es vielleicht sein, dass sie auch beim Maifeld Derby zu sehen sein wird. Träumen ist erlaubt. ;)

myx

2022-11-27 16:27:06

Ah, ok, dann war's natürlich schwierig, sich zu treffen. Wir fahren aber öfters nach München, dann klappt's halt einfach ein andermal, zum Beispiel vielleicht auch mal im Substanz. :)

Zum Abend sag ich dann gerne später noch was, wir schlendern hier grade auf dem Weihnachtsmarkt rum.

Kojiro

2022-11-27 11:52:03

Hei myx,

leider war's etwas turbulent bei uns; meiner Freundin ging's schon während des gesamten Konzerts nicht so gut. Da ich Stella wenigstens unbedingt sehen wollte, habe ich mir ihre - sehr coole - Show angesehen und noch mit ihr am Merch-Stand gequatscht. Von Julia haben wir dann leider nur 2-3 Songs gesehen und mussten dann wieder los :-/

Hoffe, du hattest auch einen guten Abend! Vielleicht / hoffentlich klappt's beim nächsten Mal! :-)

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