Nina Nastasia - Riderless horse

Temporary Residence / Cargo
VÖ: 22.07.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Nach draußen

Irgendwann in den Jahren nach Release ihres sechsten Albums "Outlaster" hörte Nina Nastasia auf, Musik zu machen. Als Gründe dafür nennt sie Unglücklichsein, ein überwältigendes Chaos, psychische Probleme sowie ihre tragisch dysfunktionale Beziehung zu Kennan Gudjonsson. Zweieinhalb Dekaden lang lebte Nastasia mit ihrem künstlerischen wie privaten Partner in einem winzigen Apartment, das sich im Zuge ihres zunehmend von Manipulation, Kontrolle und emotionalem Missbrauch geprägten Verhältnisses wie ein sich langsam schließender Sarg anfühlte. Im Januar 2020 beschloss die New Yorkerin, dem Elend zu entfliehen und verließ die Wohnung. Einen Tag später beging Gudjonsson Suizid. Diese spezifische Erfahrung und die unheimlich komplexen von ihr ausgelösten Gefühle zwischen Trauer, Schmerz, Schuld, Erlösung und Heilung bilden das Fundament für "Riderless horse", Nastasias erste LP nach zwölfjähriger Pause. Ihre erste wirkliche Solo-Platte, wie sie selbst sagt. Nicht nur, weil Gudjonssons obsessiver Einfluss fehlt, sondern auch, weil die Musikerin ohne Begleit-Band oder Streicher-Arrangements nur auf Gesang und Akustikgitarre vertraut.

Das Resultat sind sanft gezupfte Akkorde und zugänglich-simple Melodien, die einen mit offenen Armen empfangen und dadurch umso effektiver in textliche Abgründe stoßen. "Just stay in bed" transportiert uns mit akustischer Unbeschwertheit an einen idyllischen Teich, nur um die Seelenruhe als Ausdruck depressiver Kraftlosigkeit zu entlarven: "I like it here in bed / Alone when I'm feeling dead / Death is a terrible place to stay long." Nastasia entkommt der Passivität im folgenden "You were so mad", ihre Stimme überschlägt sich fast in dieser buchstäblich flammenden Anklage: "You set a blaze inside our house / You burned us down and smoked us out / You really don't know what you've done." Doch der Rückfall in die Resignation lässt nicht lange auf sich warten. "I guess I just stay in hell with you if this is love / Throw a punch or two and take a few then rise above", heißt es in der romantischen Dekonstruktion von "This is love", während das besonders zwingende "Nature" nach Erklärungen für das Verhalten des Partners sucht.

In diesem Sinne zeichnet Nastasia ein kompliziertes, widersprüchliches und gerade deshalb so nackt-authentisches Porträt ihres Innenlebens und der im Fokus stehenden Beziehung. Sie bemüht sich in Interviews, Gudjonsson nicht als bösartiges Monster darzustellen, und auch das Album enthält Momente ungetrübten Liebesglücks – vor allem im beschwingten "Blind as batsies", das betrunken durch die Stadt taumelt und naive Ewigkeitsansprüche anmeldet. Auch "Lazy road" schlummert friedlich, ehe die 56-Jährige wie beiläufig Lady Macbeth zitiert und damit auf eines der großen toxischen Liebespaare der Literaturgeschichte verweist. Die Verdrängung weicht wieder expliziter Ablehnung im bebend vorgetragenen "Go away": "You slow me down / You make me weak / Go away, go away and leave me be." Dass Nastasia selbst schließlich diejenige war, die wegging, fasst das Schlüsselstück "Ask me" in die zentralen programmatischen Zeilen der Platte: "I'll be the one to choose life over illness / To be born from this deadness and leave."

Angemessen zurückhaltend produziert von Steve Albini, klingt "Riderless horse" so, als würde man keiner Aufnahme, sondern den Geschichten einer unmittelbar vor einem sitzenden Person lauschen. Diese Art intim-reduzierter, auf realen Traumata fußender Folk legt Referenzen wie Sufjan Stevens' "Carrie & Lowell" oder Mount Eeries "A crow looked at me" natürlich nahe. Nastasias Album ist jedoch spröder als Ersteres, leichtfüßiger und offener als Letzteres und entwickelt für das aufmerksame Ohr so seine ganz eigene Intensität, mit der es Herzen zerreißt und selbst wieder zusammenflickt. Die brutale Bildsprache des gemeinsamen Dreckkriechens in "The two of us" ist stellenweise kaum zu ertragen, doch nachdem die countryesken "The roundabout" und "Trust" einsam den Mond anheulen, findet "Afterwards" die hoffnungsvolle Schlussnote, die man sich von ganzem Herzen gewünscht hat: "I want to live / I'm ready to live." "What's done cannot be undone", doch in der Entscheidung, das Geschehene hinter uns zu lassen, gewinnen wir unsere Handlungsfreiheit zurück. Nina Nastasia hat es nach draußen geschafft.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Nature
  • Ask me
  • The two of us
  • Afterwards

Tracklist

  1. Cork and pour
  2. Just stay in bed
  3. You were so mad
  4. This is love
  5. Nature
  6. Lazy road
  7. Ask me
  8. Blind as batsies
  9. The two of us
  10. Go away
  11. The roundabout
  12. Trust
  13. Afterwards
  14. Creek and chimes
Gesamtspielzeit: 34:04 min

Im Forum kommentieren

Mr Oh so

2023-05-27 20:11:45

Gibt zwei Reworks von Songs aus dem letzten Album mit Maria Paternoster. Mit etwas mehr Arrangement. Vielleicht was für jene, denen es im Original zu spärlich war:

ninanastasia.bandcamp.com/album/this-is-love-b-w-you-were-so-mad

Obrac

2022-08-05 13:45:27

Ein Depri-AdW im Sommer, passt irgendwie gerade ueberhaupt nicht. 34 Minuten vertonte Trauer und Depression, kein einziger Lichtblick, kein Licht am Ende des Tunnels.

Die Beschreibung macht Lust aufs Album. Mag es auch nach drei Durchgängen ganz gerne. Mal sehen, was sich da noch so entfaltet.

Hierkannmanparken

2022-08-05 13:43:38

Der Anfang erinnert mich an das Debut von Tankard. Der Rest nicht.

Autotomate

2022-07-31 16:47:28

Muss man vielleicht zweidreimal hören, bis sich die Songs erschließen, "alle gleich" klingen sie sicher nicht. Aber mir fehlt momentan auch ein wenig die Lust, mich auf das Album einzulassen. Vielleicht im Herbst, wenn mehr Zeit ist...

Spontan schon schön, aber "On Leaving" erreicht sie auch damit bei mir nicht.

kingsuede

2022-07-31 12:43:19

Habe noch gar nicht reingehört. Bin aber auch überrascht, dass da noch was kommt.

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