
Neil Young & Crazy Horse - Toast
Reprise / WarnerVÖ: 08.07.2022
Im Seelenarchiv
Es gibt in Neil Youngs üppiger Diskografie inzwischen eine weitere Unterkategorie: die der verlorenen Alben, die Jahrzehnte nach ihren jeweiligen Aufnahmesessions an die Oberfläche treiben. Die Motivation dahinter ist so typisch wie schlüssig: Young möchte sein eigenes Lebenswerk kuratieren, solange das noch möglich ist. Nachdem in den vergangenen Jahren mit "Hitchhiker" bereits das folkige Gegenstück zu den psychedelischen Gewittern von "Zuma" erschien und "Homegrown", dessen Introspektion seinerzeit den abgründigen Turbulenzen von "Tonight's the night" weichen musste, einen weiteren zunächst abgebrochenen Weg aufzeigte, setzt die Revision von "Toast" nun deutlich später an. Im Unterschied zu den Genannten – in Schaffensphasen entstanden, die heute einstimmig als Höhepunkte im Oeuvre Youngs akzeptiert sind – entstammen die Sessions zu Toast einer polarisierenden Periode. Kurz nach 9/11 wurden die ungewöhnlich souligen Klänge von "Are you passionate?" als irritierende Replik eher kritisch beäugt: Young tauschte gar seine treuen Begleiter von Crazy Horse gegen die Backing-Band von Booker T. & The M.G.'s und kam so smooth daher wie nie zuvor. Einmal mehr begründet er die Neuausrichtung mit der desolaten Atmosphäre des Ursprungsalbums, der es Anfang des neuen Jahrtausends etwas entgegenzusetzen galt. Doch wie lässt sich "Toast" aus heutiger Perspektive einordnen?
Kurz gesagt: als ein Album der Kontraste, die sich in erstaunlicher Weise die Hand reichen. Zunächst fällt auf, dass drei der sieben Songs unmittelbare Äquivalente auf "Are you passionate?" besitzen, dessen Groove also nicht erst durch die neu eingetauschten Musiker entstanden ist. Auf "Quit" halten weiche Backgroundchöre und ein perlendes Klavier Youngs dezente Leadgitarre im souligen Zaum, die todtraurige Ballade "How ya doin'?" (als "Mr. Disappointment" auf "Are you passionate?") wirkt mit butterweichem Crooning und seinen sanft resignierten Soli noch fragiler als früher: "I'd like to shake your hand, disappointment / Looks like you win again." "Goin' home", anno 2002 das einzige veröffentlichte Stück mit Crazy Horse im Rücken, klingt entsprechend beinahe deckungsgleich, war mit seinen in Schwermut ertrinkenden Gitarrenmelodien und an Wipers erinnernden Riffs aber schon dort eines der Highlights. Spannender für die Eigenwirkung von "Toast" ist daher das bislang unveröffentlichte Material, das dem Album einerseits eine eigene Stoßrichtung verleiht, andererseits die bekannten Elemente rekontextualisiert: nicht länger als milde Soul-Pastiche, vielmehr als Dokument einer tieferen Hilflosigkeit.
Der grollende Bass und die sich im Refrain kurz lichtende Verzerrung von "Standing in the light of love" weisen Young noch einmal als Seelenverwandten Seattles aus. Spätestens "Timberline" reißt dann vollends mit: Stampfender Klassenkampf-Blues walzt sich zu einem ambivalenten Glaubensdiskurs aus und wird von einer beunruhigenden Orgel zwischen Metaphysik und Materialismus zerrieben. "Put my faith in Jesus / Took away my livin'" – und die Eruption der Gewalt scheint plötzlich nur noch ein Fingerzucken entfernt. In seiner zweiten Hälfte gerät "Toast" ausufernd jamlastig, die letzten drei Stücke dauern über eine halbe Stunde. Anders als in den Feedbackorgien der frühen 90er setzen Crazy Horse diesmal aber durchaus andere Akzente, wobei "Gateway of love" besonders hervorsticht.
Angedeutete Samba-Rhythmen und Youngs prototypisch hemdsärmelige Leadgitarre – die selbstverständlich nach wie vor den Weltrekord für die meisten Emotionen pro gespielter Note hält – versuchen sich in einer Romanze, die nie ganz zur Erfüllung dringt. Und "Boom boom boom", dem der Closer von "Are you passionate?" ("She's a healer") entlehnt ist, das aber ziemlich anders abbiegt, verdichtet die Kontraste von "Toast" in seinen 13 Minuten experimentell. Das zunächst primitive Blues-Riff wechselt sich unverhofft mit Frauenstimmen und jazzigen Klavierlinien in der Hook ab, nach und nach kommt gar eine einsame Trompete hinzu und entrückt alles in glasigen Blicken. "There ain't no way I'm gonna let the good times go", summt Young immer wieder, immer dünner, dabei wird klar: Sie sind längst abhandengekommen. Natürlich richtet sich "Toast" vor allem an Fans und Vertraute der Alben Youngs. Es ist aber zugleich ein erstaunliches Dokument der Zerrissenheit, das seinem damals bevorzugten Vertreter einiges hinzufügt. Und ohne jeden musikhistorischen Ballast: einfach ein starkes Album.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Timberline
- Gateway of love
Tracklist
- Quit
- Standing in the light of love
- Goin' home
- Timberline
- Gateway of love
- How ya doin'?
- Boom boom boom
Im Forum kommentieren
VelvetCell
2022-09-22 23:47:07
Mein unwahrscheinlichstes Lieblingsalbum des Jahres. Nicht erwartet, aber voll überzeugt. Rotiert hier gsnz regelmäßig. Young mit Crazy Horse ist einfach irgendwie magisch.
Sick
2022-07-22 23:56:38
"Booohaaa. Was für eine Überraschung. Unheimlich gut, groovig und treibend. Bisher mein Album des Jahres "
Oh, da hat einer den Thread verwechselt.
Telecaster
2022-07-22 14:09:37
Kauf dir einfache die LP oder CD. Wenn du Are You Passionate? schon so toll findest, wirst du bei diesem Album wahrscheinlich ausrasten vor Begeisterung.
dreckskerl
2022-07-22 10:47:55
zu "faul" finde ich seltsam...
Hör es auf youtube, mit Werbeblocker geht das super.
humbert humbert
2022-07-22 08:47:09
Mir gefiel Are you passionate? immer ganz gern, deswegen interessieren mich die Alternativ-Versionen einiger Lieder davon auf Toast. Als Spotify-Nutzer bin ich aber zu faul das Album irgendwo anders zu hören …
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