Regina Spektor - Home, before and after

Warner
VÖ: 24.06.2022
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

She's got time

Hier ein Ohrwurm zum Mitnehmen: "The animals, the animals". Nicht dafür. Dass niemand anderes als Regina Spektor den eingängigen Titelsong für "Orange is the new black" hätte schreiben können, wird von Album zu Album klarer. Die Serie und die Musik der in Russland geborenen New Yorkerin tragen schließlich im Kern die gleichen Wesenszüge: Beide leiten vom Profanen ins Profunde, beide verbinden zuweilen absurden oder zynischen Humor mit politischem wie privatem Ernst, beide sind im Herzen, um Spektors eigene Worte zweckzuentfremden, "incurably human". Ihre achte, nach vergleichsweise langer Pause von sechs Jahren veröffentlichte Platte macht da keine Ausnahme, auch wenn die klassisch ausgebildete Pianistin, die mal mit den Strokes tourte, hier nach Blockbuster-Budgetklasse klingt. Unter Aufsicht von Produzent John Congleton fährt das teils in einer ehemaligen Kirche aufgenommene "Home, before and after" große Orchesterklänge auf, die mit dem schüchternen Songwriting aber keineswegs auf Kriegsfuß stehen.

Die Reibungsfreiheit dieser Symbiose bringt gleich der Opener auf den Punkt. In "Becoming all alone" kippt das lyrische Ich ein Bier mit Gott, um ihn zur Rede zu stellen: "I just want to ride / But this whole world / It makes me car sick / Please stop the meter, sir / You have a heart / Why don't you use it?" Das existenzialistische Leid trifft über die ganze Songlänge ins Schwarze, egal, ob die 42-Jährige alleine am Klavier sitzt oder sich die Streicher und Bläser samt fettem Beat zu einem tanzbaren Break aufschwingen. Bereits 2014 hatte Spektor den Track debütiert, womit er aber bei weitem nicht die älteste Komposition auf dem Album ist: Sowohl die kleine Ballade "Raindrops" als auch "Loveology" geistern schon seit Karrierebeginn durch ihr Live-Repertoire und haben nun ein Zuhause gefunden. Dass die Studioaufnahme so lange gedauert hat, verwundert gerade bei letzterem Stück, schließlich vereint es alle Spektor-Trademarks, wenn sie dort als Lehrerin ausgedachte, auf "-ology" endende Wörter aufzählt, die sich von "porcupine-ology" zu "I'm-sorry-ology" und "forgive-me-ology" wandeln: die Sprachspielereien, die aufrichtige Romantik und die naive Schrulligkeit, um die Menschen mit Twee-Allergie eher einen Bogen machen sollten.

Jene Leute müssten hier aber sowieso die Frage erlauben, warum sie sich überhaupt eine Regina-Spektor-Platte anhören. Die opulenten Arrangements vergraben ihre kindliche Seite nicht, sondern versehen sie mit einer eigenen komödiantischen Note: "What might have been", eine kabarettartige Auflistung von Dingen, die zusammengehören – "pirates and parrots", aber auch "loving and leaving" oder "business and crying" –, klingt etwa wie ein halbironisches Broadway-Musical. "SugarMan" nutzt indes verträumt-bassigen Retro-Pop, um seine Essensmetaphern fast bis zum Sodbrennen auszureizen. Vor einem Zuckerschock muss hier aber niemand Angst haben, wie das abgründige Storytelling von "One man's prayer" beweist. Der männliche Ich-Erzähler sehnt sich nach der Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts, was Spektor zunächst süß und sympathisch darstellt, ehe sie ihn als misogynen Muster-Incel entlarvt: "I just want some girl beneath my feet / To tell me I'm her king / And then beg me for a ring / And I want her to be afraid of me."

Die Punk-Attitüde und stimmlichen Ausbrüche von früher mögen auf "Home, before and after" ganz der Vergangenheit angehören, doch die instrumentale Grandezza macht das ebenso wett wie der gelegentliche Mystizismus. In "Coin" wandert eine Münze zwischen Schamanen, Präsidenten und einem kleinen Baby umher, während die im Refrain einsetzenden Drums und flirrenden Streicher den Raum erschüttern. Zwischen HipHop, früher Björk und Thriller-Score stellt "Up the mountain" rätselhaft wiederholte Naturbeobachtungen auf. Den nicht nur in dieser Hinsicht ambitionierten Höhepunkt bildet "Spacetime fairytale": eine neunminütige Odyssee im Weltraum, die ihre Theater-Geste in Ragtime-Einlagen samt Stepptanz und schließlich in ein dissonantes Finish überführt: "Pages burn but words return / You will learn." Es ist eine an den Sohn gerichtete Reflektion von Zeit, womit wir wieder beim eingangs erwähnten "You've got time" wären – ein Satz, den man Spektor gerne zurückschickt, wenn sie auch nach kleinen Pausen mit solchen Qualitätswerken wiederkehrt. Oder, um erneut ihre eigenen Worte zu nutzen, diesmal aus dem Closer "Through a door": "Home is where the light's on / No matter how long you've been gone."

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Becoming all alone
  • Spacetime fairytale
  • Coin

Tracklist

  1. Becoming all alone
  2. Up the mountain
  3. One man's prayer
  4. Raindrops
  5. SugarMan
  6. What might have been
  7. Spacetime fairytale
  8. Coin
  9. Loveology
  10. Through a door
Gesamtspielzeit: 47:20 min

Im Forum kommentieren

peter73

2022-08-30 12:11:32

fazit - bestes album seit mindestens "far" :)

highlights:
up the mountain
coin
spacetime fairytale
loveology


peter73

2022-07-12 22:05:32

die 7... hm. wie erwartet. ist aber eigentlich eine gute note, wenn man sich mal die anderen bewerungen der dame ansieht.

egal, ich freue mich auf einige spannende durchläufe wenn der silberling eintrifft!

Armin

2022-07-12 21:37:32- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

MopedTobias (Marvin)

2022-07-12 21:17:41

"hoffe auf etwas anderes als die 7/10-standardbewertung :)"

Sorry :>

peter73

2022-07-12 14:34:13

aja, schön.
hoffe auf etwas anderes als die 7/10-standardbewertung :)

mal was anderes, ist das letzte studioalbum wirklich schon 6 jahre her?

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