Interpol - The other side of make-believe

Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 15.07.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Hinter der Fassade

Reden wir nicht lange um den hinlänglich erwärmten Brei: An kaum eine andere Formation des ersten New-Wave-Schlages der frühen Nullerjahre sind die Erwartungen so hoch wie an Interpol und die Mannen aus New York City um Paul Banks machten es einem zuletzt nicht immer einfach. Zumal jeder Mensch, der dieser Art Musik einen Hauch von Begeisterung entgegenbringt, jeden noch so kleinen neuen Ton in Relation setzt zum unverwüstlichen "Turn on the bright lights", jenem zeitlos dunkel-funkelnden Manifest, das so vielen bis in die Gegenwart hinein jene kleinen Schäuerchen über den Rücken zu regnen vermag. Als Turning Point sehen viele Fans den Ausstieg von Basser Carlos Dengler, doch auch dieser, liebe Plattentests.de-Gemeinde, liegt im Jahr 2022 bereits über eine Dekade zurück.

So ein bisschen mussten Interpol ihren neuen Weg jedoch suchen. Lieferten nach dem entrückt wirkenden, leicht verschrobenen selbstbetitelten Album mit dem druckvollen "El pintor" ein paar vollmundige Post-Punk-Kracher für die mondbeleuchtete Festival-Bühne, um dann die angeschwitzte Fanschar mit dem etwas halbgaren "Marauder" zumindest ratlos zu stimmen. Rastlos waren Interpol indes nicht. Die Corona-Pandemie zwang Banks und Kessler, die normalerweise gemeinsam im Team komponieren, getrennt voneinander zu werkeln. Sich Songfragmente zu senden und das Material in digitaler Kreuz-Taktik zu entwickeln. "Eine Art Neuanfang für unser Schaffen", wie Banks zu Protokoll gibt. Die Dinge auf Null zu stellen, bedeutet bei den Amerikanern aber natürlich eines nicht: einen gänzlich neuen Sound. Interpol-Trademarks sind unumstößlich.

Dennoch sucht "The other side of make-believe", ihr siebter Longplayer, immer mal die intime, dichte Atmosphäre der Anfangstage. Das getragene "Passenger" blickt gebannt zurück nach vorne, bevor Banks im Refrain den Wolkenhimmel aufreißt. Auch "Renegade hearts" trägt die Vergangenheit offen auf der Brust, doch im Hintergrund lärmt es. Im Vergleich zu 2002 ist die Welt leider konstant unruhiger und unschöner geworden. Trotzdem sind Banks Texte nicht destruktiv, das Album hat zuversichtliche Töne. "Es dreht sich viel um die nicht-rationalen Fähigkeiten des Menschen", sagt der Frontmann, und meint damit auch die Fähigkeit, trotz Krisen und all der grausamen Nachrichten weiterzumachen, positiv zu bleiben. Wenig aufmunterte Zwischennachricht für alle Ungeduldigen: Es könnte schwierig werden, denn zunächst bleibt von "The other side of make-believe" nicht viel hängen, auch weil Interpol mit dem melodieseligen "Fables" eines der eingängigsten Stücke bereits ausgekoppelt haben. Dieses besticht nicht bloß im Refrain. Spätestens, wenn die Gitarre nach Banks' zynischem Fazit "All is fine" einen kleinen Cut ins Holz schlägt, schleicht sich ein Grinsen ins gebannt-traurige Interpol-Erlebnis. Aber, so viel sei verraten: Auch hinter den unscheinbaren Fassaden dieses Hauses perlt und funkelt es, wenn man etwas genauer hinsieht.

Ließ der Opener "Toni" als Auskopplung für sich stehend ein paar Fragezeichen, legt er mit raffinierten Keyboard-Bits und dem klug eingefädelten, tanzbaren Finale irgendwo auch den Klangteppich für das, was folgt. Daniel Kesslers gewohnt markante Gitarrenfiguren tragen selbstverständlich weiterhin die Motivik, Sam Fogarinos präzise Schlagzeugkunst hievt die neuen Stücke selbst in der defensiven Welt Interpols klar nach vorne. Manchmal über leicht entrückte Umwege wie im düsteren "Into the night", manchmal direkter und energischer wie in "Mr. Credit", neben dem straighten "Gran hotel" einer der lauteren Songs, wenn auch durch sein Gitarrenthema ganz anders gelagert als letztgenannter. Überhaupt ist die fein austarierte, pointierte Produktion hervorzuheben, für die sich Mark Ellis alias Flood und Alan Moulder verantwortlich zeichnen. Eine gute Wahl der Band, wie zum Beispiel "Greenwich" zeigt, wenn es gen Ende spielerisch von Atmosphäre zu Post-Punk-Intensität switcht. Zieht man die eingangs erwähnte Messlatte zurate, fällt eine Bewertung trotzdem etwas schwer. Übersongs gibt es nicht, aber "The other side of make-believe" plätschert auch zu keinem Zeitpunkt. Es kommt sehr homogen daher und zieht unerbittlich rein in den Sog, den diese Band zu entfachen vermag. Immer ähnlich, irgendwie anders, ein weiteres Mal großartig. Hoffentlich noch sehr lange.

(Eric Meyer)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Fables
  • Into the night
  • Passenger
  • Greenwich

Tracklist

  1. Toni
  2. Fables
  3. Into the night
  4. Mr. Credit
  5. Something changed
  6. Renegade hearts
  7. Passenger
  8. Greenwich
  9. Gran hotel
  10. Big shot city
  11. Go easy (Palermo)
Gesamtspielzeit: 45:35 min

Im Forum kommentieren

AliBlaBla

2024-12-19 13:37:27

@The MACHINA of God
Das hast du schön gesagt, ...und stimmt!
Nach Durchhören der Diskografie finde ich inzwischen "The other side of make believe " auch runder, stimmiger als die selbstbetitelte, ja als die "Antics" gar, inzwischen nach dem Debut und der "Our love to admire" (die zum Ende hin etwas abfällt, zugegeben) auf Platz drei bei mir.

Schön, das ich durch euch das nochmal alles durchgehört habe --- jetzt Riesenlust wieder auf INTERPOL live, habe da (anders als andere) hier bislang gute Erfahrungen gemacht ;)

The MACHINA of God

2024-12-19 00:43:11

"I see you in everything... I see you in everything..."

Das Album hat so viele schöne Stellen. Das ist eine davon.

Dulle

2024-12-16 19:05:33

Turn On the Bright Lights 9
Antics 8,5
Our Love to Admire 9
Interpol 8
El pintor 7
Marauder 6
The Other Side of Make-Believe 7

Für mich sind auch die ersten 3 die herausragenden Alben, aber auch "Interpol" ist noch sehr, sehr gut. "The Other Side.." hat mittlerweile bei mir deutlich gewonnen, nachdem ich es im Erscheinungsjahr noch sehr enttäuschend fand (so 5-6).

noise

2024-12-14 22:11:14

Bei mir sind immer noch die ersten beiden die Favoriten. Die danach kommenden 3 Alben waren zwar auch noch gut, hatten aber nicht mehr die ganz große Qualität. Die Marauder gefiel mir schon nicht mehr, so das ich nach El Pintor ausgestiegen bin.

fuzzmyass

2024-12-14 21:37:55

Die ersten 3 Alben klasse... alles danach zwar auch halbwegs solide, aber auch etwas schnarch langweilig

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Threads im Forum