Viagra Boys - Cave world
Year 0001 / Rough TradeVÖ: 08.07.2022
Neandertaler Schürzenjäger
Es ist wie bei den Feuersteins und den Geröllheimers: Eigentlich sind manche von uns auch heute trotz aller technischen Fortschritte gar nicht allzu weit von unseren primitiven Vorfahren entfernt. Zumindest hat Sebastian Murphy, seines Zeichens die immer ein bisschen beschwipst klingende Stimme von Viagra Boys, dieses Gefühl in den letzten Jahren bekommen, während er sich mit den dunklen Teilen des Internets beschäftigte und wohl immer wieder kopfschüttelnd zur Jacky-Cola-Dose griff. Nachdem Murphy und seine Boys auf ihrem Debütalbum "Street worms" schon den parodistischen Kampf gegen Hypermaskulinität angetreten waren, den sie auf dem irgendwie Cowboy-inspirierten Nachfolger "Welfare jazz" fortsetzten, spuckt die Zeitmaschine sie dieses Mal einige Epochen früher aus. Willkommen in der "Cave world"!
Die Post-Punker, wobei die Betonung von der Einstellung her vor allem auf dem zweiten Teil liegt, verlieren keine Sekunde und rennen mit der Keule über der Schulter in eine rotzige Abfahrt von einem Opener namens "Baby criminal". Die Single "Troglodyte" legt mit jaulenden Gitarren nach und verbiegt den Songtitel mal glucksend, mal ausgedehnt, aber vor allem heftig kopfnickend, sodass man leicht verpassen kann, dass es um einen potenziellen Amokläufer geht, der nicht an die Wissenschaft, sondern lieber an Fake News glaubt. Der Zynismus ist bei der schwedischen Band zwar omnipräsent, aber kein Widerspruch zu spaßiger Rockmusik. Und auch Selbstironie findet seit Jahren einen Platz, wenn beispielsweise in der Slacker-Hymne "Punk rock loser" der extravagante Kneipentresenhänger mit falscher Goldkette und kleinem Drogenproblem meint: "I ain't your average punk rock loser / Yeah, I'm a savage, I'm really cool." Murphy spielt gerne mal den Antagonisten und überspitzt seine Rolle dabei ordentlich.
Dafür springt er in "Creepy crawler" zu beunruhigenden Drums und Bassläufen mit Anlauf ins rabbit hole voller aus Kindern rausgepresstem Adrenochrom, mit der die Weltelite sich jung hält. Es ist eine (Anti-)Hymne für Verschwörungstheoretiker*innen, die so nur im Kontext einer Band funktioniert, die das auch weiß. "Maybe this'll end up being an anthem for a lot of anti-vaxxers. Now that would be hilarious", feixt Murphy im Pressetext. Die Musik von Viagra Boys ist das musikalische Äquivalent zum Overacting und darf als solches genossen werden - es ist so absurd, dass man nur lachen kann.
Das eher ruhige, aber nicht statische "The cognitive trade-off hypothesis" wird gar eine darwinistische Geschichtsstunde über die Wiege der Menschheit, bevor der Frontmann der Band noch einmal in die wohl gemeinste Rolle auf der Platte schlüpfen darf. In "Ain't no thief" findet er auf der Tanzfläche auf Konfrontationskurs Ausreden dafür, warum persönliche Gegenstände der anderen Anwesenden sich plötzlich in seinem Besitz wiederfinden und lügt einem dabei so rotzfrech ins Gesicht, dass man nicht diskutieren möchte. Wer möchte sich schon mit einem Rüpel anlegen?
Der Neo-Blues von "Big Boy" ist ein kurzer Throwback zum Vorgängeralbum und gönnt sich im langen Outro sogar noch Breakbeats. "ADD" hingegen schmeißt Drum Machine und Synthies an und glitcht sich in die Afterhour. Das Charmante dabei: Viagra Boys kennen wesentlich mehr Einflüsse und Akkorde, als sie vielleicht manchmal zugeben wollen. Verspieltheiten wie die Licks oder das Solo in "Punk rock loser" oder die kurzen Auftritte des Saxofons machen "Cave world" zu einer vielseitigen Angelegenheit irgendwo zwischen Liebe zu eingängigen Melodien und ausgedehnter Band-Jam-Session. Und auch thematisch passiert eben mehr, als nur ein stumpfes Draufhauen mit der Steinzeitkeule.
Der andauernde Kampf gegen die primitiven Mächte dieser Welt kann am Ende nur zu einer logischen Konklusion führen: Wem der Anarcho-Primitivismus noch nicht weit genug geht, der wird in "Return to monke" mantraartig dazu aufgefordert, alle gesellschaftlichen Zwänge abzulegen: "Leave society, be a monkey!" In diesem Lösungsansatz versteckt sich die Hoffnung, sich der Anti-Vaxxer und Verschwörungstheoretiker auf diesem Weg entledigen zu können. Die "Cave world" ist keine erstrebenswerte Lebensrealität, aber ein Menhir von einem Album in einer Diskografie, die Zynismus und Spaß auf selbstverständliche Art vereint. Und von der Bühne aus zwinkert Sebastian Murphy allen Feuersteins und Geröllheimern schelmisch zu. Yabba Dabba Doo!
Highlights & Tracklist
Highlights
- Troglodyte
- Punk rock loser
- The cognitive trade-off hypothesis
- Ain’t no thief
Tracklist
- Baby criminal
- Cave hole
- Troglodyte
- Punk rock loser
- Creepy crawlers
- The cognitive trade-off hypothesis
- Globe earth
- Ain't no thief
- Big boy
- ADD
- Human error
- Return to monke
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edegeiler
2024-12-13 10:01:18
Maaaaaann kommt doch nach Köln!
foe
2024-12-11 18:58:12
Tickets für Zürich gesichert.
noise
2024-12-09 18:53:17
Laut VISIONS kommen sie auf ihrer Europatour nur 1 x nach Deutschland. Am 8.5. nach Berlin.
foe
2024-12-08 18:57:19
viagr-aboys.com
foe
2024-12-08 18:51:06
Neue Tourdaten. Pre-Sale ab Mittwoch.
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