
Metric - Formentera
Metric / Thirty Tigers / MembranVÖ: 08.07.2022
Doom und dümmer
Heute schon Internet gelesen? "Historiker enthüllt: Ukraine gehörte mal zu Russland." Oder: "Schrecklicher Verdacht: Hortete die Queen Corona-Juwelen?" Oder gar: "Rentner verblüfft: Energiekrise hat DIESE Auswirkungen!" Äh ja danke, aber nein danke. Nicht, dass man noch zum "Doomscroller" wird, also zu einer Person, die im Internet bevorzugt besorgniserregende Nachrichten verschlingt, was mit der Zeit negative Auswirkungen auf die Psyche haben kann. Nichts für Metric: Die lasen während der Aufnahmen zu ihrem achten Longplayer lieber Reiseführer. Oder warfen zumindest mal einen wehmütigen Blick in den, der im Studio herumlag, sodass "Formentera" nicht nur zum Albumtitel, sondern für die Band auch zum Sehnsuchtsort wurde. Nix wie weg hier SARS-CoV-2, um es einmal mit dem Uralt-Slogan einer Fluggesellschaft zu sagen. Es ist zum Verzweifeln.
"What feels like eternity", waren fürs Erste zwei Jahre – eine Zeit, in der Emily Haines und ihre Jungs jedoch nicht die "Art of doubt" konservierten, die nach ihren letzten, höchst durchschnittlichen Platten angebracht war. "Doomscroller" spricht als Zehnminüter jedenfalls für das Gegenteil, lässt zunächst die Synthies glitzern und britzeln wie verschlankte Chvrches, senst sich dann mit scharfen Leads auf den Dancefloor, ehe Haines' Gesang weich auf einem flauschigen Piano-Teppich landet und der kanadische Vierer zum Schluss einen verschleppt rockenden Part aus dem Hut zaubert. Gleichermaßen imposanter Opener und Statement, zumal Metric mit "Help I'm alive" von "Fantasies" schon früher bewiesen hatten, dass sie einen prächtigen, doppelstöckigen Song auch in der Hälfte der Zeit zu meistern imstande sind. Trotzdem: Der länglichste Hit des Jahres?
Damit man sich nicht unnötig mit diesem merkwürdigen Superlativ aufhalten muss, folgen die kürzeren auf dem Fuße – denn gerade nach den zusehends anämischen Klopfern aus "Synthetica" und "Pagans in Vegas" gelingt es Metric auf "Formentera" erstaunlich souverän, aus findig programmierter Elektronik und Indie-Rock-Wucht große Hymnen mit viel Drive hochzuziehen. Auch "All comes crashing" täuscht sparsam arrangierten Pop nur an, bis die Drums dynamisch loskicken und Haines abwechselnd ent- und begeistert die Stimme erhebt. Dazu ziseliert Jimmy Shaw seine Gitarre im Nachgang fast so filigran wie einst Nick Zinner in Yeah Yeah Yeahs' "Heads will roll", wobei die Schnittmenge mit dem New Yorker Trio längst mehr in tanzbarer Schnittigkeit als in der Nähe zum Post-Punk begründet liegt. Und ersterer Aggregatzustand steht Metric hier besonders gut.
Auch dann, wenn sich das Quartett die Ruhe antut und einem angesichts der zur Überkandideltheit neigenden Streicher im Titelstück kurzzeitig Böses schwant. Doch das Ganze löst sich bald genauso im Wohlgefallen einer maßvollen Midtempo-Halbballade auf wie das entspannte "Enemies of the ocean", das Haines' 2017er-Soloausflug "Choir of the mind" von allen Tracks am nächsten kommt. Dass Metric nach dem zurückgenommeren Mittelteil mit dem schmatzenden Feger "False dichotomy" und "Oh please" noch deutlich Beweglicheres in der Hinterhand haben, zeigt zudem die Ausgewogenheit eines Albums, das zwar eine gewisse Stromlinienförmigkeit nicht immer verleugnen kann, das aber sicher auch ihr überzeugendstes seit über einem Jahrzehnt ist. Hoffen wir, dass man sich im Netz dumm scrollen muss, um jemanden zu finden, der etwas anderes behauptet.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Doomscroller
- All comes crashing
- False dichotomy
Tracklist
- Doomscroller
- All comes crashing
- What feels like eternity
- Formentera
- Enemies of the ocean
- I will never settle
- False dichotomy
- Oh please
- Paths in the sky
Im Forum kommentieren
Yndi
2022-07-20 22:36:51
Sehr schöne Scheibe, läuft aktuell sehr viel. Doomscroller und False Dichotomy sind unter ihren besten Songs. Ihre beste seit mindestens Fantasies und ich mochte Synthetica und Art of Doubt eigentlich auch ganz gerne.
musie
2022-07-17 22:37:36
erster Eindruck: stark!
BunteKuh
2022-07-17 10:40:34
Find "FORMENTERA" wirklich sehr sehr gut und hier leider etwas unterpräsent. Die Songs sind vielschichtig und sehr gut in sich aufgebaut ohne sich zu wiederholen.
Wer guten Indie-Pop mag, sollte mal reinhören
doept
2022-07-07 00:46:15
Ich mag (mochte) Metric wirklich, aber mit diesen billigen Beats bin ich leider raus.
Keine Ahnung was Bands die einen guten Schlagzeuger hatten (haben?) dazu bewegt auf solche langweiligen 08/15-Rhythmen zu setzen. Dazu noch hochgepitchte Vocals (wobei ich mir da nicht ganz sicher bin, aber hört sich so an) - danke, nein.
Durfte vor ein paar Jahren das hier in Sydney miterleben, das war schon etwas höheres Niveau:
https://www.youtube.com/watch?v=PIp6nWK_Bnk&ab_channel=idenyallaccusations
(Und das schlimme ist: Stand nahe des Kameremmans-/frau, und an die Laberbacken danaben kann ich mich auch noch erinnern...)
Armin
2022-07-04 19:33:32- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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