Wilco - Cruel country

dBpm / ADA / Warner
VÖ: 27.05.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Schmerzhafte Heimatliebe

Jeff Tweedy ist Songwriter und Lyriker. "Adult head" versammelte 2006 einige Gedichte aus der Feder des US-Amerikaners, jüngst gab er zudem in "How to write one song" zwischen zwei Buchdeckeln Auskunft über seinen musikalischen Schaffensprozess. Vor allem aber ist Tweedy Frontmann von Wilco, jener Band, die seit 1994 beständig abliefert; sowohl auf ihren Alben, als auch auf den Bühnen dieser Welt. Als zuletzt die Rede von einem Country-Album war, setzte bei einigen Beobachtern ein dezentes Zucken ein: Kann das gutgehen? Dieses Genre schließlich löst selbst bei aufgeschlossenen Zeitgenossen vielerorts einen Fluchtreflex aus, wenngleich Wilco schon in der Vergangenheit gelegentlich die Nähe dazu suchten. "Cruel country", so viel lässt sich über das zwölfte Studiowerk des Sextetts aus Chicago mühelos festhalten, greift zwar beherzt hinein in die Schatztruhe dieser musikalischen Spielart, mischt aber darüber hinaus so viel mehr hinzu.

Mit einer kurzen, präzise auf den Punkt gebrachten Nummer geht es los. "I am my mother" nimmt die Hörerschaft an die Hand und zeigt Tweedy direkt in starker Verfassung. Und gleich danach wird klar, dass "Cruel country" eben nicht nur auf das Genre Bezug nimmt, sondern auf das Land an sich, mit dem sich der kreative Kopf und seine Mitstreiter hier ausgiebig befassen. "I love my country like a little boy / Red, white and blue", singt der Frontmann im Titelstück, um seine treue Liebe zur Heimat ganz rasch einzuordnen: "I love my country stupid and cruel / Red, white, and blue." Nicht zuletzt mit dem Blick auf das jüngste Schulmassaker, das sich in eine unendliche Reihe solcher Tragödien einsortiert, wird deutlich, was Tweedy meint. Und auch die viel weiter zurückreichende Vergangenheit scheint durch, wenn Tweedy in "Hints" singt: "Do you remember when we would forget? / When we were, I guess, an empty continent?" Wunden reißen auf: "There is no middle when the other side / Would rather kill than compromise."

Und so gehen sie fort, die Geschichten. In "Ambulance" ringt ein Junkie mit dem Tod und stellt lakonisch fest: "And while I was busy dying / My lord she made some other plan." Tweedy nimmt sich gesanglich in diesen Momenten deutlich zurück, wird passend zu den reduzierten Songs immer sanfter, bevor im famosen "The empty condor" nahezu ein Wehklagen das Ruder übernimmt. Kurz vor dem Ende der ersten Hälfte sorgen Wilco mit "Bird without a tail / Base of my skull", dem ersten Song, der die Fünf-Minuten-Marke überspringt, für einen echten Höhepunkt auf "Cruel country". Ein schwungvoller, nach hinten raus wundervoll-verspielter Titel, der live seine ganze Qualität ausspielen dürfte. Mit Freude lässt es sich hernach in die zweite Hälfte stürzen, die eine überaus gelungene Mischung aus sparsam intonierten Nummern wie "The universe", traditionell instrumentierten Passagen wie in "Falling apart (right now)" und der Stimme Tweedys bietet, die sich oft wie eine warme Decke um die Schultern legt.

"Cruel country" ist ein großes Album der Band aus Chicago. Der besondere Reiz speist sich aus zwei Erkenntnissen. Einerseits weist es enormes Wachstumspotenzial auf. Mit 21 Stücken und fast 80 Minuten Spielzeit ist es zwar außerordentlich lang, aber – und das wird nach jedem Durchlauf mehr und mehr deutlich – eben nicht zu lang. Und andererseits widersetzt es sich beharrlich einer Einordnung in die beeindruckende Diskografie. Es ist eben nicht die logische Fortsetzung des Vorangegangenen oder der Aufbruch zu gänzlich neuen Ufern. Es ist auch nicht die Fortschreibung des Solowerks Tweedys mit anderen Mitteln. Es ist schlicht einer der Höhepunkte im Schaffen Wilcos, scheinbar mühelos in Szene gesetzt nach 28 Jahren Bandgeschichte und mit spielerischer Leichtigkeit von sechs Künstlern vorgetragen, die ein blindes Verständnis füreinander entwickelt haben. Ein echtes Album im besten Sinne.

(Torben Rosenbohm)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Cruel country
  • The empty condor
  • Darkness is cheap
  • Bird without a tail / Base of my skull
  • Many worlds
  • Mystery binds

Tracklist

  1. I am my mother
  2. Cruel country
  3. Hints
  4. Ambulance
  5. The empty condor
  6. Tonight's the day
  7. All across the world
  8. Darkness is cheap
  9. Bird without a tail / Base of my skull
  10. Tired of taking it out on you
  11. The universe
  12. Many worlds
  13. Hearts hard to find
  14. Falling apart (right now)
  15. Please be wrong
  16. Story to tell
  17. A lifetime to find
  18. Country song upside-down
  19. Mystery binds
  20. Sad kind of way
  21. The plains
Gesamtspielzeit: 77:04 min

Im Forum kommentieren

Zappyesque

2022-12-03 16:55:45

The Universe ein Juwel...

Absolut einverstanden…

humbert humbert

2022-12-03 15:53:49

In meiner Spotifyliste mit den meistgestreamten Songs 2022 sind fast alle Lieder des Albums zu finden. Ich muss es damals im Juni / Juli - und vereinzelt später - ziemlich oft gehört haben. Trotzdem gibt gibt mir das Album auch sechs Monate nach Release nicht viel.
'Tonight's the Day' und 'All Across the World' sind meine Highlights. Der Rest ist zwischen okay und langweilig.

sugar ray robinson

2022-06-24 17:46:08

Wunderbares Album. Nie großer Fan gewesen, aber diesmal haben sie mich komplett erwischt. Tweedy in Höchstform. The Universe ein Juwel...

Chris Mars

2022-06-21 18:31:50

Nels Cline hat sich mit Covid-19 infiziert. Die Konzerte finden z.Zt. ohne ihn statt. Deshalb hat Wilco in San Sebastian erstmalig „Impossible Germany“ nicht gespielt. Schade für die spanischen Fans.

WILCO (@Wilco) / Twitter

Enrico Palazzo

2022-06-16 10:35:28

Ich habe es jetzt ein paar Mal versucht mit dieser Platte und ich bin dem Alt. Country eigentlich sehr zugeneigt ... aber hier passiert einfach viel zu wenig, hier bleibt bei mir so gut wie nix hängen. Und die Platte ist natürlich viel zu lang und eintönig. Schade - mehr als "nett" wird es nicht werden, 6/10.

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