Craig Finn - A legacy of rentals

Positive Jams / Membran
VÖ: 20.05.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Über Wasser

"Fish tanks", also Aquarien, spielen eine wichtige Rolle auf Craig Finns fünftem Soloalbum. Fünfmal erwähnt er sie insgesamt, mal im wörtlichen, mal im metaphorischen Sinn als Sammelbecken des Scheiterns, die für ihre Fische meistens zum permanenten Gefängnis werden. Es ist eines von vielen Beispielen dafür, wie engmaschig und doch interpretationsoffen Finn seine auf sich verweisenden Erzählgeflechte strickt. Ob alleine oder mit The Hold Steady versteht es der Wahl-New-Yorker wie kaum jemand anderes, Geschichten und plastisch gezeichnete Charaktere so lebhaft in Songlängen zu verdichten, dass sich jedes Filmuniversum verschämt in die Ecke stellt. "A legacy of rentals" bildet da keine Ausnahme, auch wenn die Platte anders als ihre Vorgänger entstand. Weil er Pandemie-bedingt nicht umherreisen und neue Eindrücke sammeln konnte, erklärte Finn Erinnerungen als übergreifendes Motto, lässt seine Figuren ihrer früheren Ichs und Menschen gedenken, die nicht mehr sind. Ohne Band kam seine Musik schon immer weniger Bar-rockig daher, doch diesmal zeigt er sich noch stärker um ein abgegrenztes Soundbild bemüht: Eine 14-köpfige Streicher-Sektion ersetzt die sonst prominenten Bläser, Cassandra Jenkins und Annie Nero fangen den charakteristischen Anti-Gesang mit einladenden Harmonien auf.

Rachel heißt die erste Person, der wir auf dem Album begegnen, eine Freundin, Mitbewohnerin, womöglich Partnerin des Ich-Erzählers von "Messing with the settings". Eine praktische Frau, immer Streichhölzer in der Tasche und mit einem unbeirrbaren "faith in the industry" ausgestattet. "At sundown it feels like I'm riding a train I'm not on", sinniert sie im simpel-schönen, von Jenkins und Nero emporgehobenen Refrain, der sich auf einem akustischen Americana-Bett aus Piano, Orgel und Streichern mit Finns Spoken-Word-Vortrag abwechselt. Die Conclusio ihres Grabredners bleibt trotz aller Sanftheit herzzerreißend lakonisch: "Rachel did her best with the deal she'd been dealt and that's what I've got for her eulogy." Doch ist es wirklich ein Abschied? Könnte es sich bei der namenlosen Protagonistin aus "A break from the barrage", die sich nach einer versoffenen Nacht krankmeldet und ihren Rausch bei einer Nachmittagsvorstellung im Kino ausschläft, nicht auch um Rachel handeln? Zumindest strukturell spiegelt der ungleich elektronischere Track trotz Drumcomputer und Synths den Opener. Am Ende landet unsere Heldin übrigens wieder in derselben Bar, doch besser an der Theke sitzen als unter der Erde liegen – ein Motto, das in Finns Story-Kosmos sicher nicht zum ersten Mal zwischen den Zeilen mitschwingt.

Doch wer den 50-Jährigen kennt, weiß, dass er auch von Alkohol, Elend und Trauer durchnässt stets aufs lebensbejahende Ufer zusteuert. "It's nice to know there's someone in this world who's always known me", heißt es passenderweise im herrlich beschwingten "Birthdays" unter fidelen Tasten und einem befreit aufspielenden Saxofon. Selbst "The Amarillo Kid" fährt einen Achtziger-angelehnten Groove auf, während es seine musterhafte Kleinganovengeschichte erzählt: Desillusionierter Bursche bekommt Knarre und Spitznamen, wird für Drogengeschäfte eingespannt und glaubt im jugendlichen Hochmut, seine Auftragsgeber austricksen und sich aus dem Staub machen zu können. Sein Ende bleibt offen, es sei denn, man deutet "Curtis & Shepard" als eine weitere geheime Fortsetzung. Der erstgenannte Titelcharakter spürt letzteren in Kalifornien auf – das Amarillo Kid verzog sich "out west" – , wieder pulsiert ein sorgloser Bass, wieder nutzen ominöse Bosse verwirrte junge Seelen aus und wieder gibt es am Ende nur Verlierer. "When the devil starts to show up in your dreams / Then it's hard to get your dreams back."

Es sind solche Verknüpfungen, Details und erzählerischen Kniffe, die Finns Lyrics so immersiv machen. In "Due to depart", einem weiteren luftigen Pop-Rocker mit Tom-Petty-Vibe, erhält der Erzähler zu Beginn eine Textnachricht über einen Unfall, ehe er seinen Tag, seine Familie und schließlich seinen plötzlichen Tod reflektiert – die Perspektive ist unbemerkt zum Opfer übergegangen. Hinter stark verzerrten Gitarren baut sich "Never any horses" ein brüchiges Erinnerungsmosaik zusammen, das eine genervte Ex endgültig zerschmettert. Warum der gute Mann nicht einfach Romane schreibt, könnte der Zyniker hier fragen, doch verkennt damit, dass die Musik mehr als nur Begleitung ist. "The year we fell behind" prägt sich nicht durch sein cineastisch gezeichnetes Bild des Verfalls ein, sondern aufgrund der himmlischen, mehrstimmigen Klimax, die dem Stück ein wortloses Happy End schenkt. Craig Finn gehört zu den wenigen Musiker*innen, deren Songtexte bereits auf dem Papier berühren und begeistern, doch weiß er sie auch so in Szene zu setzen, dass sie eine noch tiefergreifende Wirkung erzielen. Und vermittelt dabei das Gefühl, dass jede noch so dick scheinende Aquariumsscheibe zerschlagen werden kann.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Messing with the settings
  • Birthdays
  • The year we fell behind
  • A break from the barrage

Tracklist

  1. Messing with the settings
  2. The Amarillo Kid
  3. Birthdays
  4. The year we fell behind
  5. Due to depart
  6. Curtis & Shepard
  7. Never any horses
  8. Jessamine
  9. A break from the barrage
  10. This is what it looks like
Gesamtspielzeit: 46:12 min

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Der Wanderjunge Fridolin

2022-06-02 08:56:15

The Hold Steady fand ich eine Weile richtig gut, alleine schon die beiden Opener von Boys and Girls in America. Irgendwann verlor ich aber das Interesse, Weiterentwicklung und so. Da ich mich zuletzt wieder verstärkt klassischeren Rocktönen zugewandt habe, wurde hier aber mal ein Ohr riskiert. Und siehe da, das ich wirklich schön. Danke für den Tipp.

Grizzly Adams

2022-05-28 20:14:18

Ein großer Geschichtenerzähler hat seinen Sound auf diesem Album musikalisch mit Streichern, reichlich weiblichen smoothen Background und Harmonysingalongs veredelt. Dazu groovende Bass- und Drumlinien und hin und wieder ein paar dezente Tasten. Das Album atmet Eleganz in den Arrangements wie keines zuvor. Die Texte sind ohnehin immer wunderbare Kurzdramen. Starkes Album. 8/10 passt auf den ersten Eindruck.

Armin

2022-05-26 20:44:41- Newsbeitrag

Frisch rezensiert. "Album der Woche"!

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