Sault - Air

Forever Living Originals
VÖ: 13.04.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Quatsch keine Opern

Hätten Sie's gedacht? 2022 erhielt Dean Josiah Cover alias Inflo den Brit Award als bester Produzent. Nicht in erster Linie für gleichsam vorzügliche wie gegenwartspolitisch relevante Platten wie "Untitled (Black is)" oder "Untitled (Rise)", die er mit seinem weitgehend anonymen Kollektiv Sault aufnahm, sondern für seine Arbeit auf Alben von Michael Kiwanuka, Little Simz und sogar Adele. Interessantes Detail: Herausgestrichen wurde vor allem die Tatsache, dass Cover erster schwarzer Preisträger in dieser Kategorie ist. Übersahen die Juroren vor lauter Wokeness, dass Elementares wie Herkunft und Hautfarbe bei einer musikalischen Leistung rein gar nichts zur Sache tut? Oder waren sie stolz, dass England nun auch so etwas wie Quincy Jones hat? Vermutlich die beste Option: Sie erkannten an, dass die Auszeichnung mehr als verdient ist.

Zumindest im Kopf seines Machers wird der sechste Sault-Longplayer zu diesem Zeitpunkt längst Gestalt angenommen haben – und Cover dürfte breit gegrinst haben, da er bereits wusste, was alle anderen nicht wussten. Nämlich, dass "Air" ein komplett neues Fass aufmacht. Hier gibt es alles, was es bisher bei Sault nicht gab: Üppige, meist wortlose Chorgesänge treten an die Stelle von Raps oder Soul-Vocals, sinfonische Kathedralen ersetzen elektronische R'n'B-Grooves. Wo einst HipHop und Funk im Sinne von Black Lives Matter die Fäuste reckten und kämpferisch bis ausgelassen den Allerwertesten schwenkten, verblüffen sublime orchestrale Soundlandschaften. Ein einziges Weg von der Emphase, in dessen Zuge der Chauffeur Miss Daisy geradewegs in die Oper kutschiert: "Air" ist ein (Neo-)Klassik-Album reinsten Wassers, pardon, Aerosols.

Platz bleibt dabei weder für die angestammten Sault-Mitstreiterinnen Cleo Sol und Kid Sister noch für die Künstler*innen aus Covers Produzenten-Portfolio. Stattdessen dirigiert der Brite mit dem Music Confectionery Choir und Wired Strings an Little Simz und Adele erprobte Ensembles, die seine strengen Kompositionen eindrucksvoll erstrahlen lassen. Zunächst nahezu körperlos einschwebende Satzgesänge verjüngen sich im Opener "Reality" zu schrillen Stößen, während Streicher sirren, Posaunen drohen und vokale Spitzen zwischen aller Harmonieseligkeit aufgeregt Alarm schlagen. Eine Unmittelbarkeit, die fast mehr Wucht entwickelt als ein nachdrückliches "Don't shoot, guns down" – und im Titelstück und in "Heart" dennoch filigran spirituelle Entitäten vertont und so den Zauber des Flüchtigen feiert. Auch als Hörer*in ist man schon ganz hin und weg.

Spätestens ab dem zwölfeinhalbminütigen "Solar", das mit donnernder Ouvertüre, grazilen Intermezzi und stimmlicher Urgewalt begeistert, ehe die Chöre final zu zerfallen drohen wie William Basinskis "The disintegration loops" in einer Nussschale. Eine feine Analogie zu "Nine", dem Album, das Sault nach 99 Tagen aus dem Netz tilgten und das seitdem praktisch nicht mehr existiert. Umso präsenter ist nun "Air", wenn "Time is precious" mit den einzigen Lyrics in einer Dreiviertelstunde das blendende Arrangement auf eine A-cappella-Meditation zur Vergänglichkeit herunterbricht und das preziöse "June 55" dank tiefer Bläser-Kaskaden und pointierter Zupf-Melodie einen verdammt zwingenden Groove freilegt. Egal, dass Rosa Parks sich erst rund sechs Monate später weigerte, ihren Platz im Bus zu räumen. Hauptsache: black is. Auch und vor allem ohne viele Worte.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Reality
  • Time is precious
  • June 55

Tracklist

  1. Reality
  2. Air
  3. Heart
  4. Solar
  5. Time is precious
  6. June 55
  7. Luos higher
Gesamtspielzeit: 45:02 min

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The MACHINA of God

2022-05-12 14:57:01

Ich habe ja irgendwann angefangen, einfach angefangen, adndere Musik zu dem Film laufen lassen, wei zum 5. mal Philip Glass mir dann doch zuviel war. GY!BEs "Lift your skinny fists..." hab ich zum Beispiel mehrfach "drübergehört", weil es nicht nur längentechnisch extrem gut passt. Konnte damit auch paar Bekannte bekommen. :)

MasterOfDisaster69

2022-05-11 14:45:00

Danke MACHINA dafuer, dass Du Koyaanisqatsi erwaehnst. Dieser Film und die Musik, einfach Wahnsinn, bis heute. Beim Orgel-Titelstueck bekomme ich heute noch Gaensehaut.
Nervig wirds bei besagter Filmmusik auch oefters, es sei denn man schaut den Film, da machen die stressigen und nervigen Teile ja gerade Sinn und man regelt die Lautstaerke etwas herunter...
Als reiner Hoergenuss auf Albumlaenge also wirklich eher schwierig...

Hier fuer alle, die es nicht kennen, den 3 Minuten Koyaanisqatsi Gaensehaut Moment:
https://www.youtube.com/watch?v=i4MXPIpj5sA

"Koyaanisqatsi [1982] ist ein Experimentalfilm und der erste Teil der Qatsi-Trilogie von Godfrey Reggio, der sich mit dem Eingriff des Menschen in die Natur und generell zivilisationskritisch mit der menschlichen Lebensweise beschäftigt."

40 Jahre spaeter und die Menschheit macht sich und den Planetern weiter kaputt...

Sick

2022-05-06 19:11:57

Ich finds furchtbar nervig. Weg damit...

Loketrourak

2022-05-06 07:42:37

Wertung versteh ich nicht. Rise und Nine haben hier die obligatorischen 7 bekommen und die jetzt ungewöhnliche 8.

Armin

2022-05-05 20:21:46- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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