Rammstein - Zeit
Rammstein / UniversalVÖ: 29.04.2022
Kartoffelsalat
Was ist denn hier passiert? In der Anfangszeit von Plattentests.de waren Rammstein eine sichere Bank für Verrisse, ein Garant für Augenrollen im Forum und Bitten, doch endlich die Segel zu streichen. Lustigerweise taten sie für ein knappes Jahrzehnt genau das. Willst' was gelten, mach' Dich selten – scheinbar hat der Volksmund recht. Nach der Sendepause erreichte "Rammstein" 2019 Platz 29 im Jahrespoll, drei Stücke konnten sich bei den Songs platzieren, "Deutschland" nur knapp an den Top 10 vorbeigeschrammt, dafür zum Video des Jahres gekrönt. Und trotz der höchsten Wertung für ein Studioalbum der Band hat man den zuständigen Redakteur schon wirr murmeln hören, dass er da im Nachhinein noch ein Punkt hätte drauflegen können. Rammstein, jetzt Plattentests-Core? Ihre achte Platte "Zeit" macht jedenfalls erst mal einen auf Bedrücktheit. Das kennen wir ja zur Genüge von den üblichen Indie-Bands.
Eine Powerballade wie den imposanten, aber langsamen Titeltrack hätte das Sextett jedenfalls früher irgendwo in Hälfte zwei versteckt, hier ist er Leadsingle und gleich nach dem deprimiert marschierenden Opener "Armee der Tristen" platziert. "Wir wollen zusammen traurig sein", raunt Till Lindemann in jenem Song über einer synthlastigen Moll-Wolke, bevor die Band unisono fordert: "Komm mit!" Kaum ahnt man, dass jenes Leitmotiv für einen Großteil der Platte und vor allem für ihren Start gilt. Der Synthesizer ist so präsent wie seit dem Debüt "Herzeleid" wohl nicht und die Riffdecke im Mittelteil des angesprochenen Titeltracks begegnet einem mehrmals auf der Reise – immer nimmt sie völlig ein. "Schwarz" denkt zu andächtigem Klavier ebenfalls gar nicht daran, nach oben zu blicken. "Trink' das Schwarz in tiefen Zügen." Heijeijei. Da haben wir den Kartoffelsalat.
Im Gegensatz zum Vorgänger, der Karrierehighlights wie "Deutschland" und "Puppe", aber auch einige Langweiler hatte, gibt sich "Zeit" qualitativ geschlossener. Zwei Probleme gibt es beizeiten. Zum einen driften Rammstein hier und da gefährlich nah ans sämige Plastik-Pathos des unheiligen Grafen heran. Andererseits ist der Closer "Adieu" vielleicht gerade deshalb eine heimliche Parodie auf jene Tränenziehermasche? "Adieu, goodbye, auf Wiedersehen" – nur ein Echo von "Servus, gruezi und hallo"? Wird da gerade der Hörer selbst mit den Worten "Den letzten Weg musst Du alleine gehen" mit unaufrichtigem Gewinke im Boden versenkt? Vielleicht bildet sich der Rezensent den doppelten Boden auch nur ein, aber jenes Spiel mit fraglichen Kunstgriffen beherrscht auch das davor gesetzte "Lügen". Es lässt den Fremd- und Selbstbetrüger langsam im Autotune ersaufen und damit selbst Cher wie eine Meisterin jenes Fachs erstrahlen. Irgendwie funktioniert's aber.
Zum anderen gehen Rammstein in den provokativen Stücken überraschenderweise nicht weit genug. Das sorgt für das einzige echte Lowlight "OK", dessen Titel für "Ohne Kondom" steht. Fängt der Track noch großartig mit einem Gaga-Chor an, der ebendiese Worte rezitiert, begnügen sich die Strophen mit öden Ficki-Ficki-Wortspielen à la "Man steckt nicht drin, ist schwer zu stemmen / Ich werde mich dahinterklemmen", anstatt das Thema (Un-)Safer Sex subversiv anzugehen. Selbst die Bloodhound Gang bekam so etwas wie "Put your hands down my pants / And I bet you'll feel nuts" hin. Besser und auch lustiger ist das Umpa-Umpa-Gebläse von "Dicke Titten", welches sich famos in den klassischen Rammstein-Sound legen – auch wenn die Bitten um Titten im Song letztlich weniger aufsehenerregend sind, als der Titel vermuten lässt. "Zick Zack" hakt derweil mit Schönheits-OPs ein weiteres Thema im Œuvre ab und bleibt als obligatorischer Hardcore-Ohrwurm im Gedächtnis, ob man nun will oder nicht. Und hey – "Bauchfett in die Biotonne / Der Penis sieht jetzt wieder Sonne"? Der ist gar nicht so schlecht.
Zwischen diesen beiden frivoleren Songs tönt es abermals ernster. "Angst" versetzt auf gelungene Weise ein zum Glück ausgestorbenes oder zumindest umbenanntes Spiel in die heute verbreitete Xenophobie und findet dazu ein packendes Riff: "Die Rücken nass, die Hände klamm / Alle haben Angst vorm schwarzen Mann." Noch einnehmender ist "Meine Tränen", das eine Inzest-Geschichte mal ganz ohne Holzhammer, dafür mit toller Dynamik erzählt und die Mutter zur Unterdrückerin macht. "Wir sind allein, doch viel zu zweit / Und teilen gern ein halbes Leid / Das Haus ist klein, die Stille groß / Sie zwingt mich oft auf ihren Schoß." Lindemann kann es noch, das Storytelling. Und Rammstein zeigen, dass ihnen ihre erhabene Seite durchaus auch in höherer Dosis gut steht. So wie sie auf dem von Bryan Adams – ja, genau dem Bryan Adams – geknipsten Cover einen mysteriösen Turm in grauer Tristesse herunterschreiten. Pathetisch, mächtig, gut.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Armee der Tristen
- Zeit
- Meine Tränen
- Angst
Tracklist
- Armee der Tristen
- Zeit
- Schwarz
- Giftig
- Zick Zack
- OK
- Meine Tränen
- Angst
- Dicke Titten
- Lügen
- Adieu
Im Forum kommentieren
VelvetCell
2023-06-09 16:17:04
*umrammel*
Dumbsick
2023-06-09 15:25:52
Finde auch, dass reise, reise das letzte richtig gute album der band war. der vergleich mit rosenrot trifft es sehr gut. eine Sammlung (größtenteils) ziemlich Langweiliger Songs
Chron-o John
2023-06-09 12:02:31
*uninspiriertes
Sollte es natürlich heißen. Ich sollte aufhören, beim Tippen nebenbei Möhrchen zu essen;
jedwede Fehler sind natürlich geschenkt, so jemand sie haben möchte.
Chron-o John
2023-06-09 12:00:14
Ganz davon abgesehen, dass hier einige Kommentare nach den aktuellen Vorwürfen schlecht gealtert sind, muss man auch einfach loswerden, dass Zeit ein schlechtes, uninspritiertes und durch die Bank weg langweiliges Album ist. Was Rosenrot für Reise, Reise war, ist Zeit für Self-Titled - nur in beschissen(er).
Ich kann die teils guten bis sehr guten Kritiken zu dem Album nicht nachvollziehen. Das Self-Titled hatte mit Deutschland einen ihrer besten Lieder und ab und an auch die kleine nette Idee, aber hier bereits schon das Prädikat Egalität, was schon bei Rosenrot anfing. Liebe ist für alle da war musikalisch zwar interessanter als Rosenrot, aber aufhalten konnte Lifad das Abdriften in die Unbedeutsamkeit nicht. Das sage ich als (ehemaliger) Fan.
Reise, Reise war noch das letzte unterhaltsame Album der Band, die mit Zeit (wohl) ihr nun mehr als fälliges Ende findet. Als Abschluss der Diskographie hätte man sich vielleicht mehr (Achtung, jetzt wird's richtig gut) oomph gewünscht. Dass sich selbst kurz nach Erscheinen keiner mehr über das Album unterhält, ist mehr als aussagekräftig und darf als mittlerweile als Sieg für den guten Geschmack gewertet werden.
Otto volle Möhre
2023-06-07 12:47:39
Zeit zu gehen. Bitte auflösen.
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