
Henry Jamison - The years
Color Study / UltraVÖ: 29.04.2022
Musicum laude
Im Englischen gibt es das wunderbare Wort "sophisticated", das sich in seiner Ergiebigkeit nicht so leicht ins Deutsche übersetzen lässt. Meint man es gut, beschreibt es etwas Anspruchsvolles, etwas Schlaues. Doch genauso gut kann es im weiteren Sinne prätentiöses Verhalten bezeichnen. Henry Jamison ist mit seinen verkopften Folk-Oden immer hart an der Grenze zwischen den beiden Bedeutungen unterwegs und steht auf seinem dritten Langspieler "The years" trotzdem wieder auf der besseren Seite.
Dabei passiert in den gut 32 Minuten gar nicht so viel Neues, schaut man die kurze und erfolgreiche Diskografie des Vermonters im Vergleich an. Nach der Irgendwie-doch-nicht-Break-up-EP "Tourism" von 2020 ist es nicht mehr der Liebeskummer, der auf den Kopf zu stürzen und alles mit sich zu reißen droht, dafür aber eine ordentliche Portion Weltschmerz. Am schärfsten sticht die Erkenntnisklinge im Titelsong ins Herz, wenn Jamison ganz un-sophisticated konstatiert: "Time flies, even when we're not having any fun." Ein bisschen mehr um die Ecke denkt dagegen "Fanfare", das die Absurdität der Akademiker*innenlaufbahn verhandelt. Mit seinem "degree in hypocrisy" imitiert der Sänger im ausstaffiertesten Stück des Albums onomatopoetisch Fanfaren, die nicht grundlos nach "doom d-d-doom" klingen.
Meistens besteht der Unterbau auf "The years" aus der bekannten Melange von Klavier, Gitarre und einem schmächtigen Gesang, der sich genauso bezaubernd wie beunruhigend wie ein Ascheregen sanft auf allem ausbreitet. Drums schleichen sich nur gelegentlich in die Szenerie und verstohlen lassen sich im Hintergrund immer wieder andere Instrumente erahnen, bleiben aber vorsichtig im Schatten. Einzig die britische Sängerin Maisie Peters sticht auf dem Duett "Make it out" auffallend positiv heraus. Das passt zu einem Album, auf dem viel geweint wird und das spontanen Stimmungsschwankungen unterlegen ist, die zwischen gleichgültigem Optimismus und zynischem Pessimismus pendeln. Besonders spürbar ist das im letzten Song der Platte. "Middle name" zeigt Jamisons feine Lyrik in Topform, wenn er ganz natürlich tonlose TV-Spots für Zuckerwasser und die biblische Meeresteilung in einem Diorama in New England platziert – und das nur wegen des bedeutungsschwangeren zweiten Vornamens Moses.
Was "The years" auf hohem Niveau abgeht, ist der Überraschungsmoment. Bei Jamison entscheidet man sowieso ziemlich schnell, ob man das nun alles fein nuanciert und clever oder in seiner Attitüde ein bisschen too much findet. Der US-Amerikaner hat keinen neuen musikalischen Kontinent entdeckt, den er jetzt erst mal erkunden muss, er verlässt sich auf zuvor Kartografiertes. Schaden tut es der sanften Folk-Pop-Platte nicht, aber vielleicht wagt er nächstes Mal sogar noch ein bisschen mehr. Auch auf die Gefahr hin, dass irgendjemand ihn dann "sophisticated" nennt und es böse meint.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Fanfare
- Make it out (feat. Maisie Peters)
- Middle name
Tracklist
- Candle song for Danny
- Fanfare
- The years
- Glass house
- To ash (feat. Nico Muhly)
- Nowhere
- Make it out (feat. Maisie Peters)
- Annie
- Witness trees
- Middle name
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Kai
2024-06-03 23:35:59
Gerade durch das schöne Tourism mit Fenne Lily entdeckt.
Hier wird nix neu erfunden aber das klingt alles echt nett.
Armin
2022-05-05 20:20:40- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
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