Husten - Aus allen Nähten

Kapitän Platte / Cargo
VÖ: 13.05.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Format ohne Radio

24 lange Monate drehte sich Vieles um ein gefährliches Virus. Gesundheitliche Dramen, persönliche Schicksale und soziale Verwerfungen, das Ausmaß wird erst nach und nach bewusst. Eine harte Zeit für die meisten von uns, doch zum Glück war die Musik immer da, spendete Hoffnung. Ob Gisbert zu Knyphausen es wegen der Pandemie vorzog, nicht allzuviel Aufsehen um seine Band Husten zu entfachen? Billige Spekulation, ein Lautsprecher war der Wahl-Hamburger Songwriter schließlich noch nie. Und Konzerte spielen werden Husten wegen ebenjenem Virus auch erstmals 2022. Dennoch hätte man sich die "Pietätlos!!"-Schlagzeile der "BILD Hamburg" vorstellen können, hätte irgendein Zufall einen Husten-Song aus dem Untergrund in die Menschen-Leben-Tanzen-Welt gespült.

Nein, Husten-Songs sind nicht wirklich fürs Formatradio gemacht. Vielschichtigkeit und Eleganz legt der Opener "Weit leuchten die Felder" an den Tag, berichtet dramatisch von Nahtoderfahrung. Rhythmus ist zunächst der pochende Herzschlag, Streicher setzen ein, zarte Elektronica übernehmen hintenraus. All das sprengt die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Außer-Takt-Klatscher hierzulande längst. Nur hin und wieder schwingt "Aus allen Nähten", dem ersten Husten-Longplayer, der unter anderem einige bisher veröffentlichte Singles vereint, ein wenig was von zu Knyphausens letztem Solo-Werk "Das Licht dieser Welt" mit. Dem Closer "Am Ende der Stadt steht ein gelbes Haus" zum Beispiel, von dessen warmer Strömung man sich gern tragen lässt und den detaillierten Beobachtungen lauscht, der am Ende aber doch abseitiger, faszinierender daherkommt als viele Songs des dritten Knyphausen-Albums.

Die ruhigeren Momente legen nur scheinbar eine Fährte, denn "Aus allen Nähten" ist definitiv ein Band-Album geworden. Moses Schneider produziert nicht nur, sondern ist fester Husten-Bestandteil. Der dritte im Bunde nennt sich "der dünne Mann", bürgerlich Tobias Friedrich, einst Kopf der Band Viktoriapark. So darf der schöne Indiepopper "Wind in den Antennen" rund um seinen Refrain durchaus etwas Dampf machen, welchen die Uptempo-Nummer "Maria" dann komplett aufnimmt, und auf diversen E-Gitarren-Soli davonrauscht. So viel Hingabe zum Rock'n'Roll, auch zu hören im geschickt inszenierten "Der hier wird wehtun" oder beim beinah noisigen kleinen Hit "Manchmal träum' ich von Träumen", hatte Knyphausens Songwriting seit seinem tollen Debüt Debüt nicht mehr.

Dass man das Gerüst vieler Kompositionen dem gebürtigen Rheingauer Winzersohn zuordnet, ist natürlich kein Problem, sondern Wohlgefühl und gute Seele des Albums. Doch "Aus allen Nähten" liefert nicht nur intime Momente und erzählt detailversessene Geschichten, es punktet immer wieder mit soundtechnischen Überraschungen. Dazu gehört weniger der zart besaitete Titelsong, der allein auf Stimme und Keyboard setzt, aber ganz sicher der Hüftschwung, den "Ja im Sinne von Nein" entfacht. Das Pfeifen aus dem Walde rauscht mit dem warmen Föhnwind herbei, bevor der Track als zweiminütige Anti-Hymne zu einem privat wie beruflich vorzeigbaren Instagram-Leben den Tanz-Pogo zündet: "Wie sagt man nochmal 'Ich kündige!' / Statt bloß 'Ja' im Sinne von 'Nein' / Ich möchte einfach wieder endlich einmal sein / Und zwar allein." "Sag alles ab" hätten Tocotronic hier vermutlich kommentiert, womit wir beim bewegenden und berührenden "Dasein" mit Sophie Hunger sind, gemeinsam mit Tocotronics "Ich tauche auf" das wohl schönste Duett der jüngeren deutschsprachigen Musikgeschichte. Von all dem bekommt "BILD Hamburg" aber wahrscheinlich nichts mit. Achselzuck-Smiley ¯_(")_/¯.

(Eric Meyer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Der hier wird wehtun
  • Manchmal träum' ich von Träumen
  • Ja im Sinne von Nein
  • Dasein (mit Sophie Hunger)

Tracklist

  1. Weit leuchten die Felder
  2. Der hier wird wehtun
  3. Wind in den Antennen
  4. Manchmal träum' ich von Träumen
  5. Aus allen Nähten
  6. Ja im Sinne von Nein
  7. Dasein (mit Sophie Hunger)
  8. Maria
  9. Jeder zerbricht
  10. Am Ende der Stadt steht ein gelbes Haus
Gesamtspielzeit: 45:40 min

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Huhnmeister

2024-06-06 02:00:06

Kratzen - Zwei

VelvetCell

2022-12-18 12:35:31

Ja, in der Tat nachhaltig großartig.

Wenn man zu Husten etwas Negatives sagen will, dann, dass die Band eine "Gisbertisierung" erfahren hat. Sprich: "Aus allen Nähten" könnte auch ein zu-Knyphausen-Album sein. Der lockere Post-Punk-was-auch-immer-Ansatz der frühen EPs ist einer größeren Ernsthaftigkeit gewichen.

Aber wenn dabei so eine klassische Gisbert-Nummer wie "Weit leuchten die Felder" rauskommt, dann ist das vollkommen zu verzeihen. Und doch würde ich auch gerne mehr Husten mit dem früheren Esprit hören.

dreckskerl

2022-12-17 21:20:12

Ich kaufe ein r und ein Komma. :-)

Und irgendwie auch verschwurbelt formuliert.
Die Texte und die dazu komponierten Harmonien und Arrangements sind für sich und als ganzes Album einfach zum Niederknieen gut.

So gehts auch.

dreckskerl

2022-12-17 21:03:08

Ich bin nachhaltig begeistert und für mich das beste deutschsprachige Album seit velen Jahren.
Was mich persönlich überwältigend beeindruckt ist der Einsatz und die Planung von Musik zum perfekten Transportmittel des jeweiligen Textes ohne Rücksicht auf einen Sound oder Genre, aber trotzdem ein zusammenängendes Album zu keieren.

Und schlicht die beste deutsche Stimme zur Zeit: Gisbert

Perfect Day

2022-10-30 07:26:16

Ich hab sie live leider auch verpasst. Nachdem die Karte drei Jahre an meiner Pinnwand klebte, machte ich dem Bandnamen genau in der Konzertwoche namentlich zu sehr die Ehre…

So bleibt derweil nur das Album, das weit runder ist, als die EPs. Als bestes deutschsprachiges Album seit Jahren kann ich es nicht bezeichnen, aber es ist zweifelsohne ein beachtenswertes Stück Musik mit einigen tollen Nummern.

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