Hatchie - Giving the world away

Secretly Canadian / Cargo
VÖ: 22.04.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Dream big

Die Popmusik ist eine äußerst aktive Rentnerin. Auch im achten Lebensjahrzehnt schreitet sie resolut vorwärts, unbeeindruckt von allen Unkenrufen nach ihrer Innovationsarmut. Vermutlich wird sie zwar keine neue Tonart mehr erfinden, doch im Zusammenprall unterschiedlicher Ästhetiken und mit neuen Perspektivierungen lassen sich weiterhin alte Versatzstücke zu eigenständigen, frischen Bauwerken aufschichten. Harriette Pilbeam ist vielleicht keine radikale Dekonstrukteurin wie etwa Arca, doch hat sie ebenfalls verstanden, dass Stilgrenzen Relikte längst vergessener Zeiten darstellen und sie den Ton der Vergangenheit ganz mit ihren eigenen Händen umformen kann. Die als Hatchie bekannte Künstlerin vereint unter der Schublade "Dream-Pop" Cocteau-Twins'sche Nebeltänze, satten Neunziger-Rock, unverfroren käsige Pop-Hooks, Rave, TripHop und Madchester zu einem umwerfenden Konvolut aus Drive, Krach und Melodie.

So beginnt "Lights on" mit psychedelischen, leicht in den Garten der Stone Roses hineinwuchernden Saiten-Ranken, ehe sich jener Opener zur mitreißenden Hymne aufschwingt, die alle Autofenster von selbst herunterkurbelt. "This enchanted" düst mit ähnlicher Zielstrebigkeit in den Gehörgang, auch wenn es dabei ein paar plötzlich hochgezogene Shoegaze-Betonwände umkurven muss. Der arme Dream-Pop muss sich ja zuweilen von Leuten, die offensichtlich kein Englisch verstehen, den Vorwurf anhören, zu verhuscht, zu verschlafen, zu verträumt zu sein. Hatchie setzt diesen Vorurteilen ihre eigene Vision entgegen, die mit ihren wachhaltenden Rhythmen eine ungemein mächtige und griffige Aura ausstrahlt. In diesem Sinne passt auch das Cover-Foto: Mit Engelsflügeln und Lederjacke wandert die junge Australierin durch eine grobkörnige nächtliche Großstadt und fängt damit diese spezielle Stimmung zwischen Zartheit, im Dunkeln wartenden Geheimnissen und radiofreundlich ausgeleuchteter Urbanität wunderbar ein.

Wo auch immer sie ihre Intuition hintreibt, für jede Szenerie hat Hatchie den richtigen Track dabei, um sich nicht nur darin einzufügen, sondern alles andere sofort zu überstrahlen. Um die nächstbeste Tanzfläche mit tränenüberströmten Körpern zu füllen, eignet sich "Quicksand": ein, man kann es nicht anders sagen, gottverdammter Banger, der es unglaublich macht, dass die 28-Jährige mit dieser Art von sehnsuchtsvollem Elektropop nicht ihr täglich Brot verdient. Das melodisch verschlungene, von einer männlichen Stimme unterstützte Jangle-Wunder "Twin" bahnt sich indes über Baustellenzäune und Absperrungen einen Weg zum besten Aussichtspunkt der Stadt, um im Schlussdrittel einen Sonnenaufgang pursten Wohlklangs zu begrüßen. Und wenn Hatchie unterwegs zufällig ein Abrisskommando trifft, können die Laser-Synths und buchstäblichen Big Beats von "The rhythm" sicherlich ihren Beitrag leisten.

Was das Album von anderen ebenfalls hochklassigen Retro-Neudenker*innen nochmal heraushebt, ist seine Klarheit. Textlich offenbaren sich gelegentlich Risse und Selbstzweifel, etwa im Piano-Rausch des Titeltracks oder dem zwischen Wucht und Zerbrechlichkeit pendelnden "The key". Doch man hat nie das Gefühl, Hatchie wolle uns etwas verbergen. Ihr Songwriting ist bockstark, und sie vergräbt es nicht unter aufgesetzten Obskuritäten oder selbstzweckhaften Zusammenbrüchen. Sie vermengt ihre Inspirationsquellen zu einem abwechslungsreichen, dennoch homogenen Fluss, der im Zweifel stets in Richtung der Zugänglichkeit statt der kunstvollen Genre-Sektion abbiegt. Mit diesem Schutzengel an ihrer Seite wird die Popmusik weiterhin jeden Morgen zum Bäcker radeln können, ohne sich Gedanken um ihre Zukunft machen zu müssen.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • This enchanted
  • Twin
  • The rhythm
  • Quicksand
  • The key

Tracklist

  1. Lights on
  2. This enchanted
  3. Twin
  4. Take my hand
  5. The rhythm
  6. Quicksand
  7. Thinking of
  8. Giving the world away
  9. The key
  10. Don't leave me in the rain
  11. Sunday song
  12. Til we run out of air
Gesamtspielzeit: 49:54 min

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2023-07-07 08:36:25

Haha, hab die Rezension jetzt nachgeschlagen, nachdem ich beim Hören von Quicksand dachte, "man, das ist ein richtiger Banger". Reicht das als Bewerbung als Rezensent?

qwertz

2022-04-26 19:41:27

Bin sehr angetan. Die Singles waren ja schon astreine Hits, aber dann noch auf sowas wie "The rhythm" oder "The key" zu stoßen, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Gerade vom ersten bekomme ich einfach nicht genug und liebe das NIN-Ende. Generell sehr stark wie Hatchie am Ende immer nochmal mit einer starken Idee oder einem völlig neuen zweiten Refrain überrascht.

Bei Reddit fand ich auch die Meinung eines Users ganz treffen, der schrieb, dass es im Grunde ein Taylor-Swift-Album mit Mitteln des Shoegaze sei.

Streitet sich bei mir jedenfalls mit Beach House ums Album des Jahres. Da muss schon was Gewaltiges kommen, was an die beiden ansatzweise ranreichen will.

Christof

2022-04-26 13:10:17

Durch und durch poppig! Vielleicht auch deshalb etwas "zu weich" geraten für meinen Geschmack.

Yndi

2022-04-21 11:00:46

Ultrabock.

Armin

2022-04-20 21:01:46- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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