Der Ringer - XP

Mechanik
VÖ: 08.04.2022
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Die nächste Dimension

Im Grunde war es von vornherein klar. Oder spätestens nach der entschleunigten Version von Underworlds "Born slippy (Nuxx)" sowie dem massiven Einsatz von Autotune und Keyboard-Flausch auf "Soft kill": Der Ringer und Post-Punk – das verträgt sich nicht wirklich. Das Debüt der Hamburger ähnelte mehr einer Traumstation zur Erforschung der Schnittstellen zwischen künstlichen Welten und wirklichem Leben als etwa einer Joy-Division-Platte. Da geriet der entrückt perlende Hit "Apparat" zur scharfsinnigsten Abhandlung des Themas Online-Beziehung seit Jens Friebes "Gespenster (Free pics)" und "Lady Chatterley" von F.S.K., und Sänger Jannik Morton Schneider wusste: "Chatten kann auch total romantisch sein." Ist die Realität also doch nur etwas für Leute, die nicht mit dem Internet klarkommen? Der inzwischen zum Quartett geschrumpften Band ist das egal.

Für die sind die Grenzen zwischen digital und real nämlich längst aufgehoben, und auf die "experience points", die Schneider und Gitarrist Jakob Hersch als Gamer mit ihren Spiele-Charakteren sammeln, nimmt "XP" im Titel genauso Bezug wie auf das überholte Windows-Betriebssystem. Das zweite Der-Ringer-Album fährt das fällige Update: mit weit ausholenden Song-Monolithen voll sehnsüchtigem Eskapismus, denen das Hier und Jetzt längst zu klein geworden ist und die für den Sprung in die nächste Welt rüsten. Oder gleich in eine andere Dimension, wo Identitäten und Gender-Kategorien ständig verschwimmen und neu zusammenfließen. Da wird aus "Morton Morbid" im Nu Morton fluid, dicke Schlagzeug-Wucht, Elektro-Walzen und aufgebrachte Gitarren holen das ganz große Besteck raus. Braucht eh keiner mehr, wenn wir bald endlich weg sind.

Zunächst müssen sich Der Ringer ebenso mit dem Hier und Jetzt befassen wie mit den schon auf "Soft kill" präsenten Gesichtern auf Monitoren und Displays. "Make me up before you go", bittet Schneider das virtuelle Gegenüber zum wohligen Bombast von "Make up" um die Validierung seines Selbst – Du nimmst mich wahr, also bin ich. Die Riffs röhren brachial, der Refrain inszeniert eine umarmende Hymne, die als Opener kaum besser funktionieren könnte. Und heißt es später "Lösch mich, ich bin nie passiert", während Synthie-Streicher tupfen und polternde Drums aufbegehren, hat es sogar irgendwie Stil, per Instant-Messenger Schluss zu machen. Willkommen in der Körperlosigkeit und im nächsten tollen Stück Drama-Pop, das nie etwas von Post-Punk gehört hat. Eher von Woodkid oder Polarkreis 18, bevor diese lieber Modern Talking sein wollten.

Lässt man den vergeistigten Überbau außen vor, spiegelt "XP" außerdem das neue Bandgefüge und Schneiders Wandlung hin zum immer androgyneren Frontmann. Mission Statement: Nur wer sich verändert, bleibt sich treu – erst recht musikalisch. Der Screamo-Eskalation von "1st person" folgt mit "Oktopus" eine Piano-Moritat aus der Tiefsee, das großartige "Kokon" wankt samt entwurzelten Trap-Beats und metallischem Nachgang Richtung Unhörbarkeit, beherrscht aber stets das Chaos. Zwar gehen vor allem die bereits 2019 veröffentlichte erste Single "Heart of darkness" und die mehrstöckige Weltflucht "H.E.A.L." nicht ohne Pathos ab, geben ihr delikates Geheimnis jedoch nie preis, ehe der Closer "No fear" vom Ende für Schmerz, Angst und instabiles WLAN kündet. Und davon wird man eine wunderbar nebulöse Dreiviertelstunde lang ja wohl noch träumen dürfen.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Make up
  • H.E.A.L.
  • Lösch mich
  • Kokon

Tracklist

  1. Make up
  2. Heart of darkness
  3. H.E.A.L.
  4. Lösch mich
  5. 1st person
  6. Oktopus
  7. Transformer
  8. Heilig
  9. Kokon
  10. Kintsugi
  11. Pix
  12. No fear
Gesamtspielzeit: 46:19 min

Im Forum kommentieren

Pole

2022-04-15 09:22:27

Gibt es keine physische Veröffentlichung?

Armin

2022-04-13 20:39:47- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Armin

2022-03-09 11:42:14- Newsbeitrag

Armin

2022-02-09 15:06:37- Newsbeitrag

Der Ringer sind zurück! Ich freue mich heute ganz besonders euch die erste Single "NO FEAR" des neuen Albums "XP" mit gewohnt künstlerisch-anspruchsvollem Video vorzustellen! Das Album erscheint am 08.04.2021.



"Wir haben uns bewusst für NO FEAR als erste Single unseres kommenden Albums XP entschieden, nachdem seit HEART OF DARKNESS eine Periode des unfreiwilligen, depressiven Stillstands in der Band herrschte. Der Song beschreibt das Ende einer langen, zehrenden Reise geprägt von Angst und den Moment der Überwindung dieses Zustandes. Parallel zu den Lyrics gestaltete sich für uns dieses Bild ganz real in Umbrüchen innerhalb der Band: Zerstreuung in verschiedene Städte, Bruch mit dem bestehenden Netzwerk wie Label und Management, finanzielle Schwierigkeiten, gefolgt von der uns allen bekannten Pandemie. Ein gelähmter, ungewisser Zustand war die Folge, der uns lange Zeit gefangen nahm. Angst ist in NO FEAR eine unbekannte Erscheinung: Ein ständiger Begleiter, der dir über die Schulter schaut, dir ins Ohr flüstert. Eine Hand die dich sanft vor sich her schubst und immer wieder zu sich zurückzieht. Wie ein Parasit der Zweifel und Sorgen in dir sät nur um sich daran satt zu fressen. Irgendwann hältst du diesen Zustand aber nicht mehr aus, möchtest nicht mehr zögern und schöpfst neue Entschlossenheit. Dieser innere Funken Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten bedeutet für uns NO FEAR."

Wie ruhig gestellt in trügerischer Harmonie und Lethargie wirkt die erste Hälfte des Songs, getragen durch Klavier und eine zaghafte Stimme. Um sich von diesem Berg der Angst freizuschaufeln, die Saugnäpfe abzureissen, bedarf es eines riesigen Kraftakts, eines Aufbäumens und sich Widersetzens, um im musikalisch geschrienen Nein ein Ja für so viel Anderes wieder möglich zu machen. So entlädt sich der Song explosionsartig und entlässt die HörerInnen zwar erschöpft aber hoffentlich mit neuem Selbstbewusstsein.

Für das Musikvideo zu NO FEAR hat Sänger Jannik selbst Regie geführt:
"In unseren Songs transportieren wir unsere gelebten Emotionen in fiktive Settings, sehr geprägt von Science Fiction und Fantasy. Musikvideos sind dafür, wenn auch mit begrenzten Mitteln, die perfekte visuelle Ergänzung. In HEART OF DARKNESS sehnten wir uns als Cyborg-Band mit leeren Blicken, die alleine inmitten einer kalten Fabrikhalle seit ungezählten Jahren vor sich her spielt, nach Licht in ihren dunklen Herzen. NO FEAR spielt in einer ähnlichen fiktiven dystopischen Zukunft. Die Menschheit wurde von fear, der materialisierten Angst in Form Waldschrat-artiger Geister ausgelöscht. Weite Wälder haben den Planeten zurückerobert. Von der alten Zivilisation sind nur noch wenige steinerne Ruinen, aus dem Boden ragende Kabelstränge und von Unkraut überwucherte Maschinen übrig. Die letzten Überlebenden, sogenannte Verdorbene werden dort gefangen gehalten. Ein Verdorbener versucht sich von fear zu befreien und aus dem Wald zu entkommen."

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